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Was mir das Herz bricht: Handy-Klingeln im Spind

„Hier bin ich! Hör mir zu!“
Illustration: Federico Delfrati

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Als ich kürzlich im Schwimmbad meinen Spind aufschloss, um meine Tasche rauszuholen, klingelte es. Aus irgendeinem der Spinde neben meinem drang der iPhone-Klingelton „Auftakt“, hüpfte drinnen auf und ab, und irgendwie klang das traurig, weil gedämpft. Das Handy lag ja hinter einer Blechtür und womöglich unter einem T-Shirt  oder einer Hose vergraben.

Das Ganze hätte mich nicht weiter beschäftigt, wenn das Klingeln nach einer halben Minute einfach aufgehört hätte. Tat es aber nicht. Das Handy klingelte. Und klingelte. Und klingelte. Ich hörte es die ganze Zeit über, als ich in eine Kabine gegenüber der Schließschränke ging, mich abtrocknete, anzog, mir die nassen Haare kämmte. Ich glaube, es klingelte sogar immer noch, als ich die Kabinen und das Schwimmbad verließ, aber vielleicht war da der Ton auch schon in mein Gehirn übergangen und hallte von innen in meine Ohren.

Das Klingeln hinter der Spind-Tür klang so verzweifelt, als würde jemand „Hör mir zu! Hier bin ich!“ rufen

Ich ging also mit nassen Haaren, dem Ton im Ohr – und einem gebrochenen Herzen. Denn das andauernde Klingeln hinter der Spind-Tür klang so tragisch, so verzweifelt, als würde jemand ganz laut und unaufhörlich „Sprich mit mir! Hör mir zu! Hier bin ich!“ rufen. Und keiner hörte es. Oder nur jemand wie ich, die ich nichts ausrichten konnte. Ich konnte den Menschen, der da jemanden zu erreichen versuchte, nicht befreien, denn ich hatte keinen Schlüssel zu diesem Spind.

Und selbst wenn ich einen gehabt hätte, was hätte es gebracht? Mich hätte der Anrufer ja gar nicht sprechen wollen. Er wollte jemand Bestimmtem etwas mitteilen, anscheinend etwas sehr Dringliches und Wichtiges. Ich sah genau vor mir, wie ein junger Mann in dunkelblauen Badeshorts gerade kraulend Bahnen zog oder mit seinem Baby im Kinderbecken plantschte, weil er beschlossen hatte, jetzt mal mindestens eine halbe Stunde, eher länger, wirklich nicht erreichbar sein zu müssen oder zu wollen und darum getrost ins Schwimmbad gehen zu können. Was für eine Fehleinschätzung! Denn ausgerechnet in dieser Zeit kommt dann dieser Anruf, weil … ja, warum eigentlich? Ich kann nur spekulieren. Tod, Geburt, Heiratsantrag, Lottogewinn, Liebeserklärung, Autounfall, Preisverleihung? Vielleicht ist jemand wieder aufgetaucht, der verschollen war? Vielleicht wurde jemand festgenommen oder aus der Haft entlassen? 

Mal kurz nicht erreichbar sein – und ausgerechnet in dieser Zeit bricht die eigene Welt ohne einen zusammen, das ist schlimm

Natürlich wird der Adressat in den blauen Shorts die Nachricht später noch erhalten haben, falls er nicht auf den nassen Schwimmbadfliesen ausgerutscht ist und sich das Genick gebrochen hat (das hätte aber sicher in der Zeitung gestanden). Bloß machte mich der Gedanke fast noch ein bisschen trauriger: Angenommen, es ging um eine schlechte Nachricht (und nur bei wirklich schlechten Nachrichten lässt man es doch überhaupt so lange klingeln, oder?), wie tragisch muss dann der Moment gewesen sein, als der nasse Mann gut gelaunt und angenehm ermattet an seinen Spind gegangen ist, womöglich mit dem Baby auf der Hüfte, ihn aufgeschlossen und schon mal kurz einen Blick aufs Handy geworfen hat – und dann: acht verpasste Anrufe, elf Nachrichten, „Ruf mich bitte sofort zurück, es ist dringend!“, „Wo bist du???“, „Bitte melde dich, es ist wirklich wichtig“, „Bitte“. Mal kurz nicht erreichbar sein – und ausgerechnet in dieser Zeit bricht die eigene Welt ohne einen zusammen, das ist sicher ein sehr schlimmes Gefühl.

Vielleicht war es auch ganz anders. Vielleicht hat nur ein nerviges Callcenter angerufen. Oder es war ein „Butt Call“. Und der junge Mann hat dann zurückgerufen und die Freundin am anderen Ende hat gesagt: „Nö, ich hab dich nicht angerufen, haha, ja, das Handy muss wohl in der Hosentasche deine Nummer gewählt haben, naja, aber schön, von dir zu hören, wie geht’s dir denn so?“ Vielleicht. Aber weil es eben auch ganz anders gewesen sein kann, würde ich mir wünschen, dass alle Menschen, die schwimmen gehen, ihr Handy ausmachen oder zumindest lautlos stellen, bevor sie es im Spind einschließen. Damit niemand vor einer Blechtür stehen und hören muss, wie dahinter im Dunkeln jemand ruft und ruft und ruft.

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