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Was mir das Herz bricht: Überforderte Eltern in öffentlichen Verkehrsmitteln

Illustration: Katharina Bitzl

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Es ist ein Dienstagmorgen, 7.30 Uhr in der S-Bahn, ich schaue verschlafen von meinem Handy auf und blicke in das Gesicht eines kleinen Monsters. Es hat blonde Haare, rote Backen, ist etwa sechs Jahre alt und aus seinem Mund trieft es braun. 

Wild fuchtelt es mit einem Pappbecher heißer Schokolade herum und verteilt sie gleichzeitig auf sich selbst und den Nachbarsitzen. Daneben seine aufgebrachte Mutter: schicker und sichtbar teurer Mantel, hochgesteckte Haare, für diesen Moment sehr unvorteilhafte Stiefel und am Rande eines Nervenzusammenbruchs: „Benjamin, Schluss jetzt. Trink den Kakao!“ Benjamin nimmt einen Schluck, um den Becher danach weiter zu schütteln. Jetzt auch auf den Mantel der Mutter.

Es wirkt wie ein Lehrstück aus dem Buch: „Wie kann ich mir am besten den Tag schon morgens versauen“ – Tipp 47: Ich kaufe meinem sechsjährigen Sohn einen offenen Pappbecher mit heißer Schokolade, während ich versuche, ihn in der vollen S-Bahn zur Schule zu bringen.

Neben ihnen rollt eine ältere Dame schon die Augen. Es ist ihr deutlich anzusehen, dass sie sich kaum beherrschen kann, nicht den Mund aufzumachen. Die Schokospritzer kommen ihr gefährlich nahe. Das entgeht auch der Mutter nicht. Die jetzt mit bösen Blicken versucht, die alte Dame und ihren Sohn gleichzeitig in Schach zu halten. Doch Benjamin sieht kein Problem mit seinem Verhalten, im Gegenteil: Er grinst vor sich hin, während seine Mutter verzweifelt versucht, seine Kleidung und den Schulranzen von Schokolade zu befreien, was sich auch deswegen als schwer erweist, da Benjamin gleichzeitig immer wieder von seinem Sitz herunterspringen will.

Langsam scheint die Mutter die Nerven zu verlieren: Ihre Stimme wird lauter und schriller, die Haltung angespannter und ihr Blick schweift nervös zwischen ihrem Sohn und den Mitfahrenden hin und her. Währenddessen rutscht ihr auch noch ständig die Tasche über den Arm, weil sie versucht, ihren Sohn festzuhalten.

Dann passiert das nächste Unglück: Der Rest der Schokolade hat ihren Mantel getroffen und verteilt sich in langen braunen unauslöschbaren Schlieren darüber. Doch sie kann nur kurz entsetzt an sich herunterblicken, denn Benjamin will schon wieder weiter. Und neben ihr glotzen alle blöd.

Auch ich kann meine Augen nicht von dem Machtkampf zwischen Mutter und Sohn abwenden. Denn er bricht mir das Herz.

Denn wenn ich so in das Gesicht der um Fassung ringenden Frau schaue, frage ich mich, wie es ihr gerade wohl so geht? Sie hatte sich das bestimmt anders vorgestellt: Wahrscheinlich wollte sie ihrem Sohn mit der Schokolade eine Freude machen und der dankt es ihr so. Jetzt aber muss sie versuchen, ihn zu bändigen, die Sitze zu säubern und gleichzeitig ihren Ausstieg nicht zu verpassen, während alle anderen Menschen in der S-Bahn sie ziemlich herablassend angaffen.

Trotz ihrer Bemühungen werden sie auch noch zu spät kommen: Benjamin in die Schule und sie zur Arbeit – und an beiden Orten wird sie dann noch mehr Missgunst ernten. Und am Ende gibt sie sich wahrscheinlich auch noch selbst dafür die Schuld: Mein Kind rechtzeitig vor der Arbeit zur Schule bringen kann doch eigentlich nicht so schwer sein?! Oder?

Die Szene in der S-Bahn tut auch deshalb so weh, weil sie im Kleinen zeigt, wie anstrengend das Leben für Eltern sein kann: Ihr Kakao-Duell offenbart den großen Kampf so vieler Mütter und Eltern: Beruf, Kind und Alltag zu meistern, den Ansprüchen gerecht zu werden, die von allen Seiten zerren.

Vorerst naht Rettung in Form der nächsten Haltestelle. Mit gesenktem Kopf zieht die Mutter den jetzt plärrenden Benjamin hinter sich her. Bevor die S-Bahn weiterfährt, sieht man noch, wie ein neuer Kampf entbrennt: Sie versucht, ihrem Sohn die braungefleckte Jacke anzuziehen. Auch hier reagieren die Leute auf dem Bahnsteig mit Kopfschütteln. „Was für eine Rabenmutter sind Sie eigentlich?“, scheinen sie ihr entgegenrufen zu wollen. „Das arme Kind weint doch schon.“ Während in der S-Bahn alle froh sind, dass die Frau, die ihr Kind nicht im Griff hat, ausgestiegen ist.

 

Während ich noch der Mutter und ihrem Kind mitleidig hinterherblicke, meint die ältere Dame mit den rollenden Augen zu mir: „Manche Leute sollten eben keine Kinder bekommen.“ Und lehnt sich selbstzufrieden in ihren Sitz. 

Das scheint das Schicksal dieser armen Mutter zu sein: Nicht nur das Balg ist undankbar, auch die Menschen um sie herum meinen, über die richtige Erziehung ihres Kindes und ihr Leben Bescheid zu wissen.

 

Dann muss ich an diesen Typ arme Eltern denken, die mit zwei zankenden dreijährigen Zwillingen und einem schreienden Baby auf dem Arm versuchen, ihre Taschen, den Kinderwagen und das Spielzeug im Flugzeug zu verstauen, während der Typ im Anzug mit der schwarzen Aktentasche sie anblafft, ob sie nicht mal ihr Kind beruhigen könnten. Da wird sogar Urlaub zu einem echten Albtraum. Schluss mit Erholung. Es geht nur noch darum, es ohne größere Verluste von A nach B zu schaffen. Dabei haben sich bestimmt auch die Eltern auf den Urlaub gefreut. Vielleicht sogar gehofft, mal ein bisschen Zeit für sich zu haben. Aber nichts da: Jetzt haben sie eben Kinder und zicken sich über deren Köpfe hinweg in einem viel zu engen Flugzeug auch noch gegenseitig an. Es geht nur noch um das nackte Überleben. 

Und das geht jeden Tag so. Die nächsten Jahre kommen sie erstmal nicht mehr raus aus der Nummer. Egal ob sie jeden Tag mit ihrem Kind die S-Bahn nehmen oder in den Urlaub fliegen: Zeit für sich, spontane Kurztrips, das Feierabendbier oder einfach nur verpennt in die Arbeit fahren – geht nicht mehr. Dabei haben sich diese Eltern bestimmt auch einmal auf die Bälger gefreut, sie sich sogar gewünscht und jetzt das: morgendliche Demütigungen wegen eines Pappbechers mit heißer Schokolade.

 

Aber das stimmt natürlich nicht. Hört man ja immer: Die meisten Eltern sind trotz aller Strapazen glückliche Menschen. Ist wahrscheinlich was dran, sonst wäre die Menschheit längst ausgestorben. Trotzdem: Beim Betrachten der Kampf-Szene in der S-Bahn wirkt ein Leben mit Kindern und all dem Stress, den Ansprüchen und blöden Blicken der Mitreisenden auf mich ziemlich abschreckend. Und das ist vermutlich das Traurigste an dieser Geschichte.

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