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„Wir sind eine Generation ohne Zukunft“

Fotos: privat

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Eine Generation, der ihre Zukunft geraubt wurde – so sehen sich viele junge Italienerinnen und Italiener derzeit. Die Jugendarbeitslosigkeitsquote in ihrer Heimat liegt derzeit bei 40,1 Prozent, das bedeutet von den Erwerbsfähigen zwischen 15 und 24 Jahren findet mehr als ein Drittel keinen Job. Vor etwas mehr als einer Woche wählte ein junger Mann einen drastischen Ausweg: Er beging Suizid. Kurz darauf veröffentlichte seine Mutter seinen Abschiedsbrief, darin schreibt er über die Verzweiflung über die miserable Arbeitsmarktsituation und die mangelnde Aussicht auf eine Zukunft. Seitdem diskutiert das Land: Wie kann es mit Italiens Jugend weitergehen?

Wir haben junge Italiener gefragt, wie sie ihre Chancen sehen, sich eine eigene Existenz aufzubauen.

"Man darf jungen Leuten nicht ihre Träume nehmen"

daria

daria

Daria aus Sizilien studiert in Siena Molekular- und Zellbiologie. Sie würde nach ihrem Studium gern in der Forschung oder Lehre arbeiten –  trotz des geringen Gehalts und den schlechten Jobchancen.

„Ich habe Micheles Abschiedsbrief gelesen und war danach ziemlich traurig und unruhig. Ich muss mir selbst bald einen Job suchen und bekomme immer Angst, wenn ich so etwas höre. Es ist traurig, ich habe so viele Jahre studiert und am Ende wird es sich nicht auszahlen, jedenfalls denke ich das im Moment. Viele meiner Freunde gehen weg, um Arbeit zu finden, sei es von Süditalien, wo es so gut wie gar keine Jobs gibt, nach Norditalien oder gleich ins Ausland. Ich wollte eigentlich nicht wirklich aus Sizilien weg und würde gern wieder zurückkehren, wenn ich fertig bin mit dem Studieren. Versuchen werde ich es, Sizilien ist mein Zuhause. Vielleicht finde ich ja eine Schule oder Universität, an der ich arbeiten kann. Ich würde auch gern schon jetzt bald heiraten und eine Familie gründen, aber wie soll man das machen, wenn man keinen Job hat, mit dem man genug verdient? Ich denke, das Problem ist, dass auf dem Arbeitsmarkt kein Platz für uns junge Leute ist, weil die alten Leute so lange arbeiten müssen, um ihre Rente zu bekommen. Die eine Generation kann die andere nicht ablösen. Daran müsste sich etwas ändern - und vielleicht passiert das ja auch. Man darf jungen Leuten nicht ihre Träume nehmen, das ist eine der schönsten Sachen, die wir haben.“

Protokoll: Nadine Wolter

 

"In Deutschland funktioniert ja immer alles"

Gianni (25) ist Bauingenieur auf der Arbeitssuche.

"Mein Hauptproblem bei der Jobsuche ist, dass jedes Stellenangebot mindestens ein halbes Jahr Arbeitserfahrung verlangt. Leider konzentrieren sich die italienischen Universitäten aber auf theoretische Inhalte, nicht darauf, dass wir etwas für die Praxis lernen. Bisher habe ich deshalb nur ein zweimonatiges Praktikum absolviert – in der Schweiz, weil es in Italien nicht geklappt hat. Das macht es schwierig, Arbeit zu finden. Denn selbst in Branchen, in denen nur hochqualifizierte Leute arbeiten, kommen mindestens 50 Bewerber auf eine Stelle. Da ist immer jemand mit mehr Erfahrung dabei.

Früher oder später werde ich wahrscheinlich in die Schweiz ziehen, um dort zu arbeiten. Ich habe nur Angst, dass sie mich dort nicht haben wollen. Schweizer mögen Italiener nämlich oft nicht, weil sie glauben, wir würden ihnen die Jobs wegnehmen. Deswegen beginne ich jetzt auch, ein wenig Deutsch zu lernen. Vielleicht – wenn ich mit der Sprache gut zurecht komme – kann ich sogar in Deutschland Geld verdienen und leben. Das wäre wahrscheinlich noch besser, denn dort funktioniert ja immer alles.

Ich würde mir wünschen, dass Arbeitgeber mehr Vertrauen in junge Leute hätten. Auf der anderen Seite müssen wir aber wahrscheinlich auch einfach lernen, mit wenig zufrieden zu sein."

Protokoll: Lara Thiede

 "Es bleibt nur noch die Flucht ins Ausland"

valerio

Valerio (24) aus Sizilien studiert Philosophie und Literatur in Siena. Er hat die Jobsuche noch vor sich.

"Ich studiere noch, aber ich kenne viele Leute, die schon Abschlüsse haben, ihren Master und so weiter, und trotzdem als Verkäufer im Tabakladen oder Babysitter enden. Als junger Mensch in Italien einen gut bezahlten Job zu finden, ist sehr sehr schwierig. Es muss so frustrierend sein, wenn kein Arbeitgeber deine Qualitäten anerkennt, da bleibt einem eigentlich ja nur noch die Flucht ins Ausland.

Ich kann nicht sagen, dass ich Micheles Suizid nachvollziehen kann, aber ich habe seinen Brief gelesen und verstehe sehr gut, was er meint. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es nur noch darum geht, genug Geld zu verdienen und Profit zu machen. Träume, Berufswünsche oder Selbstverwirklichung sind überhaupt nicht mehr wichtig.

Meiner Meinung nach kann uns nur noch ein radikaler gesellschaftlicher Wandel helfen. Ich bin kein Spezialist oder habe dazu irgendwelche Daten parat, aber warum probieren wir nicht einmal so zu leben wie die Menschen in Tommaso Campanellas „Sonnenstadt“? Jeder würde nur noch vier Stunden am Tag arbeiten und dann könnte er entscheiden, was er mit seiner Freizeit anstellt, sich weiterbilden, anderen helfen oder sich einfach ausruhen. In einer solchen Welt müssten junge Menschen wie Michele sich nicht aus Verzweiflung darüber, dass sie keinen lukrativen Job haben, das Leben nehmen, sondern könnten einfach glücklich sein."

Protokoll: Nadine Wolter

"Ich habe meinen Glauben in die repräsentative Demokratie verloren"

Anastasia (28) ist nach ihrem sozialpädagogischen Master arbeitslos.

"Ich habe in Bologna Anthropologie studiert und dann einen Master in 'Planning and Managing of Educational Intervention in Social Distress' gemacht. Gleich nach dem Studium habe ich angefangen, Bewerbungen zu verschicken. Ich habe nie eine Antwort erhalten. Nach sechs oder sieben Monaten war ich völlig demotiviert. Ich habe eine Weile in Teilzeit in einer Schule mit Kindern mit Behinderung gearbeitet, 40 Stunden im Monat für 7 Euro die Stunde. Es wurden alle möglichen Dinge von mir erwartet, die überhaupt nicht in meinen Aufgabenbereich fielen und dazu war der Job natürlich total unterbezahlt.

Irgendwann musste ich wieder zu meinen Eltern in die Kleinstadt zurück ziehen. Das hat sich wie ein Rückschritt angefühlt. Meine Eltern denken, ich bin eine von den jungen Leuten, die einfach nichts machen wollen. Viele ältere Leute denken so über die jüngere Generation. Ich habe ein bisschen in der Bar meiner Tante gejobbt. Ich bin in eine psychischen Krise geraten, habe mein Selbstbewusstsein verloren, mich gefühlt, als hätte ich versagt. Das Positive an dieser Zeit war, dass sie mich dazu veranlasst hat, mehr über die Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft nachzudenken und darüber, wie ich eigentlich leben will.

Renzis neoliberale Arbeitsreformen haben immer mehr junge Leute in die Prekarität getrieben. Die Idee der unbezahlten Arbeit, der Praktika und Probezeiten, hat sich in den letzten Jahren sehr verbreitet. Es gibt keine angemessene Bewegung dagegen. Die jüngeren Leute sind mit dieser Art zu denken aufgewachsen und akzeptieren es still. Dieses neoliberale System flößt uns Angst ein und Angst spaltet. Michele hat in seinem Abschiedsbrief geschrieben: "Ich fühle mich von niemandem repräsentiert". Das stimmt, das System macht dich unsichtbar. Die ältere Generation versteht uns nicht und kritisiert uns. Auch die Medien berichten kaum über die Probleme der jüngeren Generation. Wir sind alle sehr isoliert voneinander, müssen uns alle um uns selbst kümmern.

Ich habe meinen Glauben in die repräsentative Demokratie verloren. Sie verändert nichts, heute sind es die Banken, die entscheiden. Wir sind eine Generation ohne Zukunft. Also müssen wir die Zukunft neu erfinden. Wir müssen uns gemeinsam organisieren und neue Formen des Zusammenlebens schaffen: etwas Kollektives, um uns gegen diese diffuse Prekarität zur Wehr zu setzen. Die Nachricht von Micheles Suizid hat meine Wut gespiegelt und hat mich noch mehr dazu angehalten, zu kämpfen.

Hier in Bologna protestieren die Studierenden seit einer Woche gegen die Ausweiskontrollen, die in der Unibibliothek eingeführt wurden. Die Situation, die wir auf nationaler Ebene erleben, spiegelt sich hier im Kleinen wieder: Die Uni wird zunehmend privatisiert, wir werden immer mehr kontrolliert. Niemand interessiert sich für die Probleme unserer Generation, aber sie schicken die Polizei in die Bibliothek, um uns zu verprügeln. Dass wir bei der Versammlung gestern so viele waren, hat mir wieder etwas Hoffnung gegeben. Ich habe mich weniger allein gefühlt: Es gibt noch andere, die etwas verändern wollen!"

Protokoll: Lou Zucker

"Ich habe in meinem ersten Job 500 Euro im Monat bekommen"

allesandro

Alessandro (28) kommt aus Sizilien und arbeitet mittlerweile für eine Firma in Südspanien. Seine ersten Joberfahrungen hat er in Italien gemacht.

"Es stimmt nicht, dass es in Italien keine Jobs gibt. Das Problem ist eher, dass es nicht den Super-Job bei dir um die Ecke gibt, sondern du umziehen musst. Dafür sind viele Italiener zu unflexibel. Aber es stimmt, dass die Jobs für ausgebildete Leute schlecht bezahlt sind. Ich habe in meinem ersten Job 500 Euro im Monat bekommen und musste in eine Stadt ziehen, die weit von meinem Zuhause entfernt war. Mittlerweile habe ich allerdings Arbeitserfahrung gesammelt und konnte bei meinem zweiten Job nach mehr Geld fragen.

Nach Spanien bin ich gegangen, weil ich hier viele eigenständige Projekte habe. Ich habe mich auch in Italien beworben und dort Zusagen für Jobs gehabt, bei denen ich mehr verdienen würde als hier in Spanien. Das hätte wahrscheinlich alles nicht geklappt, wenn ich nicht erst einmal für weniger Geld gearbeitet hätte. Diesen ersten Schritt machen die meisten Leute allerdings nicht, weil ihnen 500 Euro zu wenig sind. Es stimmt ja auch, es ist wenig Geld, aber wer nie anfängt, Erfahrung zu sammeln, kommt dann natürlich erst recht nicht an besser bezahlte Jobs heran.

Das Problem, das Italien hat, ist paradox: Wir haben zu viele gut ausgebildete Leute. Deswegen sind die Jobs so schlecht bezahlt. Allein Rom hat mehr Jurastudenten als der US-Bundesstaat New York und die meisten von ihnen sind natürlich arbeitslos. Quasi jeder, der die Schule beendet hat, fängt heute an zu studieren. Unser Schulsystem sollte junge Leute motivieren, auch mal einen anderen Weg zu gehen.“

"Viele Ältere verurteilen mich: Wie konntest du dein Dorf verlassen?“

Francesca (30) hat an der Universität in Mailand Sprache und Kulturvermittlung studiert. Heute arbeitet sie in Augsburg.

"Ein Jahr lang habe ich nach einem Job als Fremdsprachenkorrespondentin in Italien gesucht. Dabei ist mir bewusst geworden, wie wenig Wert die Italiener auf Sprache und Kultur legen. Chancen auf einen Arbeitsplatz haben vor allem Ärzte und Anwälte. Wer Kunst oder Kultur studiert hat, wandert aus, um einen guten Job zu finden.   Ich habe mich deshalb auf Stellen in anderen Ländern beworben: in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich. Viele Leute, die mit mir studiert haben, wären nicht bereit, für längere Zeit ins Ausland zu gehen. Die meisten haben Angst und glauben, sie könnten es nicht schaffen, sie wollen ihre Familie nah bei sich. Jetzt ist den meisten die Familie aber wahrscheinlich näher, als ihnen lieb ist: Denn viele wohnen mit Mitte 30 bei ihren Eltern, weil sie nicht genügend Geld verdienen, um sich ihre eigene Wohnung leisten zu können.  

Wenn ich mein Heimatdorf besuche, kann ich nachvollziehen, wovor sich meine ehemaligen Kommilitonen fürchten. Viele Ältere verurteilen mich: „Wie konntest du dein Dorf verlassen?“ Ich antworte dann immer, dass meine Eltern mich nicht beim Studium unterstützt haben, damit ich mein Wissen später in einem Land verschwende, in dem sich keiner dafür interessiert. Die meisten Leute verstehen das nicht, denn den Italienern ist die Heimat oft das Wichtigste. Die Stimmung unter den jungen Italienern leidet sehr unter dem Arbeitsmarkt. Viele gründen nur deshalb keine eigene Familie, weil sie nicht einmal ihr eigenes Leben finanzieren können. Dass sich jemand deswegen umbringt, können sie aber, denke ich, nicht nachvollziehen.

Ich glaube aber übrigens nicht, dass das ein rein italienisches Problem ist. Es existiert europaweit in Griechenland, Portugal, Spanien, Frankreich und so weiter – überall. Auch das „Wunderland“ Deutschland, wie es sich viele Italiener vorstellen, hat damit so seine Schwierigkeiten.

Für Italien wünsche ich mir, dass der Staat es schafft, Menschen wie mir wieder Möglichkeiten im eigenen Land zu bieten. Dass die Leute ein Verständnis dafür bekommen, dass auch Sprache, Kunst und Kultur wichtig sind – besonders, weil Italien hauptsächlich vom Tourismus lebt. Ob ich und mein Mann aber jemals wieder zurückkehren werden, weiß ich nicht. Wir haben unser Leben jetzt in Augsburg, hier fühle ich mich wertgeschätzt."

Protokoll: Lara Thiede

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