Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Warum wir Freunden gegenüber die besseren Menschen sind

Foto: Pexels / Liza Summer

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Ich bin alles andere als ein Streit-Vermeider. Ich habe mein Temperament sehr schlecht unter Kontrolle. Wenn ich ausraste, raste ich aus. Dann gehen Dinge kaputt. Manchmal kriege ich vor Wut sogar Nasenbluten.

Ich streite mit meinen Eltern, mit meinen Geschwistern und mit meinem Freund. Und wenn ich Streit sage, meine ich damit keine Meinungsverschiedenheit, sondern einen kindischen Kampf, ein Battle unter der Gürtellinie, respektloses Machtgehabe, bewusst unfaire Provokationen, Draufballern mit „Immer“- und „Nie“-Vorwürfen. Das totale Zurückfallen in die kindliche Trotzphase. So lange, bis alle Anspannung raus ist und man sich zusammensetzt und die Sache vernünftig klärt und danach denkt: Hä? Wofür der ganze Ärger? Das war ja einfach. Wir hätten ja gar nicht streiten müssen.

Freundschaften, in denen man sich mit Hingabe streitet, halte ich für Sadomaso-Beziehungen, nicht für Freundschaften

 

Interessanterweise streite ich nie mit Freunden. Ich kann mich an keinen einzigen solchen Ausraster-Streit mit einer guten Freundin oder einem guten Freund erinnern, auch mit meinen allerbesten nicht. Kindergarten? Schulzeit? Danach irgendwann? Nichts. Es gibt für mich keinen Grund für das Ausrasten unter Freunden. Ich kann mit Freunden diskutieren, höflich Meinungsverschiedenheiten besprechen, vielleicht darüber spotten oder lachen, wie unterschiedlich wir in einigen Lebensfragen sind. Aber richtig böse streiten, zicken, einander Vorwürfe machen? Wieso? Ich weiß, es gibt Menschen die sagen: „Die besten Freunde sind die, mit denen man sich richtig streitet!“ Oder: „Ich bin eigentlich immer mit irgendeinem meiner Freunde gerade im Streit“. Leuchtet mir nicht ein. Freundschaften, in denen man sich mit Hingabe streitet, halte ich für Sadomaso-Beziehungen, nicht für Freundschaften.

Warum das so ist? Streit geht aus der Angst hervor. Angst vor Liebesentzug und Angst davor, dominiert zu werden. Angst vor Kompromissen, die man nicht schließen will, Angst, etwas zu verlieren, das man nicht hergeben will, gern auch aus Angst vor der Angst.

Meinungsverschiedenheiten mit Freunden lösen in mir einfach keine existentiellen Ängste aus. Dafür haben unsere Lebensstile und unsere Lebensentscheidungen viel zu wenig miteinander zu tun. Was auch immer meine Freunde glauben, sagen, tun, kaufen, essen, hören – falls es mir missfallen sollte, betrifft mich das nicht existenziell.

Streit geht aus der Angst hervor. Meinungsverschiedenheiten mit Freunden lösen in mir keine Ängste aus

Warum sollte ich mich darüber aufregen? Warum irrational dagegen rebellieren? Egal, was sie für Ansichten haben, wie bescheuert sie sich anziehen, wie peinlich sie sich benehmen, ich sage manchmal vorsichtig meine Meinung dazu, manchmal nicht. Je nach Schweregrad der Verirrung. Und finde sie ansonsten allenfalls interessant.

Ich würde sogar noch versuchen, geduldig zuzuhören, wenn mir eine meiner besten Freundinnen offenbarte, dass sie jetzt die AfD wählt oder vorhat, jemandem heimlich ein Kind anzuhängen. Schon allein, weil ich daran glaube, dass man Menschen am besten mit Respekt, Empathie und Vertrauen gewinnt und es mir nur durch eine Menge wohlwollender Gespräche gelingen könnte, diese Person von ihren kruden Plänen abzubringen. Handelt es sich um harmlosere Meinungsverschiedenheiten, will ich allerdings selten irgendjemanden von seinen Haltungen abbringen. Wer bin ich, über richtig und falsch zu urteilen? Ich höre mir an, was los ist, sage vielleicht nö, finde ich nicht, oder lache ungläubig drüber und denke ansonsten gütig wie meine eigene Großmutter: Aha, so vielfältig ist also die Welt! So vielfältig ist also mein Freundeskreis! Wie schön.

Das einzige, was ich von meinen Freunden erwarte, ist, dass ich mich in der Not auf sie verlassen kann

Das einzige, was ich von meinen Freunden erwarte, ist, dass ich mich in der Not auf sie verlassen kann. Und natürlich: dass ich gern mit ihnen zusammen bin. Aber lustigerweise bin ich das ja umso mehr, je krasser sich ihr Lebensstil von meinem unterscheidet. Da wird mir jedenfalls nicht langweilig.

"Agree to disagree" ist also etwas, das mir meinen Freunden gegenüber immer gelingt - aber nicht den Menschen gegenüber, die mir am Nächsten sind. Bloß gilt für die eigene Familie und die eigene Beziehung doch eigentlich auch: Je unterschiedlicher die Beteiligten, desto interessanter das Zusammensein. Trotzdem wird in familiärem oder liebesbeziehungstechnischem Umfeld jede Differenz viel schneller zur Bedrohung.

Erstens, weil innerhalb der Familie und der Beziehung die Hemmschwelle viel geringer ist, sofort graderaus das eigene harte Urteil auszusprechen oder den Satz schon gleich offensiv bedrohend mit „Waaaas, spinnst du, das ist doch nicht dein Ernst! Wenn du das denkst, dann...“ einzuleiten. Man ist sich so nah, man labert einfach drauf los, ohne Rücksicht auf Verluste.

Innerhalb einer Beziehung oder der Familie kann man nicht so leichtfertig abwinken und sagen: Mach halt dein Ding, aber bitte ohne mich

 

Aber zweitens kann man eben auch nicht lässig abwinken und sagen: Mach halt dein komisches Zeug, aber bitte ohne mich. Zumindest nicht so leichtfertig. Man ist in der Familie und in der eigenen Beziehung emotional viel zu involviert. Beinahe jedes Gespräch, das man führt, fühlt sich existentiell an, es hat immer gleich auch eine Bedeutung für das gemeinsame Zusammenleben, die gemeinsamen Ideale, die gemeinsame Zukunft. In der Familie hört das, rein äußerlich betrachtet, natürlich irgendwann auf, spätestens wenn man auszieht. Emotional aber dauert die Involviertheit auch in der Familie an - oft bis ans Lebensende. Und in der eigenen Beziehung ist sie täglich vorhanden. Weil man viel öfter gemeinsame Entscheidungen trifft. Kompromisse schließt. Lebenshaltungen abgleicht. Egal, wie unabhängig man sich inszeniert und wie sehr man sich von spießigen Paar-Selbstverständlichkeiten freimachen will – man ist halt doch ein Paar. Und damit mehr Einheit, als es zwei Freunde sind.

Bloß: Am Ende kommt man ja doch, egal ob nun mit Freunden oder mit der Familie oder in der Beziehung, zur selben Erkenntnis: Dass man den anderen nicht grundlegend ändern kann. Dass man immer nur bis zu einem bestimmten Punkt aufeinander zugehen kann oder sich in seinen Meinungen beeinflussen. Und dass das auch gut so ist, weil es die Wendigkeit des Geistes trainiert und dem Tunnelblick vorbeugt. "Agree to Disagree" ist ein super Konzept. Und im Zweifel eh das Einzige, das uns übrigbleibt. Und deshalb wünsche ich mir oft, meine Familie und meinen Freund genauso geduldig, entspannt und tolerant behandeln zu können wie meine Freunde.

Ihnen gegenüber bin ich der weisere Mensch.

  • teilen
  • schließen