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„Das ganze gemeinsame Leben hört auf“

Illustration: Daniela Rudolf

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Alina und ihr Freund Jannik sind frisch verliebt, als sich plötzlich alles ändert: Jannik fällt in einen Abgrund. Eine Depression übernimmt seinen Kopf, sein Leben und seine Beziehung. Natürlich will Alina helfen. Doch sie rennt überall gegen Wände.

In ihrem Buch „Die Liebe in dunklen Zeiten“ beschreibt Alina ihren gemeinsamen Weg durch neun Jahre Depression – im ersten Buch für Angehörige, aus der Sicht einer Angehörigen. Rat komme von allen Seiten, sagt sie. Hilfreich sei er aber selten, und echte Beratungsstellen seien rar. Deshalb schrieb sie das Buch, das sie selbst in all den Jahren so gebraucht hätte.

Jannik konnte nicht mehr zur Arbeit ins Büro, arbeitete lange nachts im Homeoffice, hörte dann ganz auf zu arbeiten und lebte von Erspartem, dann von Krankengeld. Einen Großteil der Kosten trug Alina.

Wir haben sie gefragt, was es mit ihr machte, als Jannik leiden musste. Wie sie mit der Situation fertig wurde – ohne sich selbst und ihre Beziehung aufgeben zu müssen. Und was man wirklich für seinen Partner tun kann, wenn man eigentlich nichts tun kann.

(„Alina Bach“ ist ein Pseudonym. Alina nutzte es auch, um „Die Liebe in dunklen Zeiten“ zu veröffentlichen. Um die Privatsphäre aller vorkommenden Personen zu schützen, verwendet sie darin keine echten Namen. Auch Jannik heißt eigentlich anders.)

jetzt: Jannik war eines Abends auf einen Schlag nicht mehr der Alte. Seine Depression kam wie aus dem Nichts. Warum ist das passiert?

Alina Bach: Depressionen können manchmal von einem ganz bestimmten Fall ausgelöst werden – wenn jemand Nahes stirbt zum Beispiel. Aber bei Jannik, wie auch bei vielen anderen Betroffenen, gab es diesen Fall nicht. Bei ihnen ist die Depression schon lange angelegt.

Das heißt?

Am Anfang ist es eine latente Depression. Weder der Betroffene noch das Umfeld kriegen irgendetwas davon mit. Er überlastet sich vielleicht ständig, ohne es zu merken, ist dauerhaft über den eigenen Grenzen. Irgendwann ist die Überforderung so groß, dass die latente zu einer vor-manifesten Depression wird. Da ist der Betroffene noch halbwegs funktionsfähig, geht zum Beispiel noch arbeiten, aber verspätet sich plötzlich ständig. Oder erinnert sich nicht mehr an Aufgaben, die er übernommen hat. Oder ist plötzlich immer gereizt. Man merkt: Die Person ist nicht so, wie sie immer war. Aber in einem Maße, dass niemand darauf kommen würde, dass eine schwere Krankheit dahintersteckt. Sie denken „Ach, er ist nur etwas überarbeitet.“ Und der Betroffene denkt das auch.

Dann gibt es oft einen oder mehrere Auslöser, wie eine größere Verantwortung im Job oder eine Trennung oder einen Unfall – oder alle Kraft ist einfach aufgebraucht – und die Person bricht zusammen.

Die Verläufe von Depressionen sind immer individuell. Die Situation ist so eigen wie der Mensch selbst. Bei Jannik gab es keinen konkreten Auslöser. Es war nur der innerlich unbemerkt immer weiter steigende Druck. Was passierte, war deshalb ein absoluter Schock.

„Mir wurde klar: Er spielt nicht. Er kann nicht aufstehen. Er kann das Haus nicht verlassen“

Wieso bist du bei ihm geblieben, als er plötzlich so anders wurde?

Weil ich ihm geglaubt habe, was er beschrieben hat. Mir wurde klar: Er spielt nicht. Es geht ihm wirklich so schlecht. Er kann nicht aufstehen. Er kann das Haus nicht verlassen. Er stellt sich nicht an, er kann wirklich nicht! Dieses Verstehen funktioniert nur, wenn man dem andern wirklich vertraut.

Depressive wirken viel stärker, viel gesünder, als sie eigentlich sind. Bei Jannik war das extrem. Er ist sportlich, groß, durchtrainiert, hat breite Schultern und leuchtende Augen. Man sieht es ihm nicht an. Depressive funktionieren nach außen hin unglaublich lange noch.

Wie war es, ein Paar zu sein, während Janniks Depression?

So ähnlich wie wenn man mit einem andersartig schwerkranken Menschen zusammenlebt. Jemandem, der Krebs hat zum Beispiel. Jannik konnte nichts mehr machen, was wir vorher unternommen haben. Weil er keine Kraft hatte.

Alles hört auf. Das ganze gemeinsame Leben hört auf. Man trifft keine Freunde, geht nicht ins Kino, hat keinen Sex. Es gibt keine kleinen Freuden oder Aufmerksamkeiten vom Partner mehr. Nicht einmal zum Geburtstag. Ein depressiver Mensch hat in einer schlimmen Phase eventuell nicht einmal genug Kraft für ausreichende Körperpflege.

Deine Mitmenschen sagten, du hättest einen Besseren verdient. Jannik sei egoistisch, die Anstrengung eine Zumutung, wer bei „angeblich depressiven“ bleibe, sei blind. Warum hast du das nicht genauso empfunden?

Da gibt es diese eine Antwort, die nach nichts klingt, aber sehr viel ist: Ich liebe diesen Mann. Und nur, weil ein Mensch, den ich liebe, krank wird, endet ja nicht meine Liebe. Klar war er anders. Aber wie er war, war ja kein Charakterzug, sondern ein Symptom. Natürlich stellt man fest: Unsere Verbindung verändert sich extrem, weil er nichts mehr geben kann. Aber davon hört ja die Liebe nicht auf.

Was ist Liebe für dich?

Liebe ist kein Warentausch. Sie ist ein Gefühl. Ein Gefühl inniger Verbundenheit und ein Gefühl, dem anderen Gutes zu wollen und viel Zeit miteinander verbringen zu wollen. Und oft frage ich die, die mich nicht verstehen: Wie wäre das denn umgekehrt für dich? Wenn du in diese Situation geraten würdest – wie fändest du es, wenn sich dein Partner deswegen von dir trennt? Dann schauen sie ganz betroffen.

„Jannik und ich hatten ein Ziel. Wir beide“

Trotzdem: Wie hast du diese Last ausgehalten – neun Jahre lang?

Jannik und ich hatten ein Ziel. Wir beide. Wir wussten, dass wir uns echt gut tun, wir wussten, dass wir ein tolles Paar sind, und wussten, dass wir so jemanden wie den andern so schnell nicht wieder finden. Wir wussten, dass wir eine lange Durststrecke haben. Aber wir waren immer davon überzeugt, dass Jannik wieder gesund werden kann. Wir waren beide gemeinsam bereit, dafür so viel wie wir beide konnten zu geben – was nun einmal unterschiedlich viel war. Auf der Grundlage der Bereitschaft, dass wir das gemeinsam durchstehen wollten, waren kleine Momente, die wir miteinander teilen konnten, genug. Auch für mich.

Wie sah eure gemeinsame Zeit denn aus?

Man muss Dinge finden, die beiden Spaß machen und die machbar sind, für beide, auch unter diesen Umständen. Man muss von bestimmten Ansprüchen runter. Ich habe akzeptiert, dass er in einer anderen Lebenssituation war, als vorher. Hätte ich das nicht, wäre die Liebe flöten gegangen. Wenn es nicht darum geht, was man macht, sondern dass man etwas zusammen macht, schafft man das. Und wenn man sich liebt, findet man auch so etwas.

Zum Beispiel?

Ich habe irgendwann bemerkt, dass es ihm hilft, Filme zu schauen. Um aus seinem Gedankenkarussel auszusteigen, diesen ganzen negativen Gedanken. Wir haben also lange fast jeden Abend niedliche Tiervideos geschaut. Das war etwas fürs Herz, auch für mich, und etwas, was wir gemeinsam machen konnten.

Eines Abends hat er dann selbst vorgeschlagen, den Salat fürs Abendessen zu machen. Dann haben wir angefangen, regelmäßig zusammen zu kochen. Und das haben wir dann total gefeiert: „Hey, wir haben was gefunden, das wir zusammen machen können!“

Eine Frage, die sich vielleicht einige stellen: Kann ich die Depression meines Partners heilen?

Nein. Es ist wichtig, diese Illusion, man könnte so wahnsinnig viel helfen, früh aufzugeben. Ich kann meinen depressiven Partner nicht nicht-depressiv machen. Er muss das selbst schaffen, in seiner Therapie. Aber ich kann ihn darin begleiten, dass er Wege findet, gesund zu werden.

„Es ist wichtig, diese Illusion, man könnte so wahnsinnig viel helfen, früh aufzugeben“

Wie?

Ich kann ihn zum Beispiel unterstützen, überhaupt zu verstehen, dass er Hilfe braucht. Diese Erkenntnis fällt depressiven Menschen oft schwer. Ich kann sagen: „Das ist keine normale Erschöpfung oder Müdigkeit, die du da hast.“ Und anbieten, mit ihm einen Arzt zu suchen und besuchen. Aber man kann nur wenig helfen. Ich glaube, dass ich das durch meine eigene Therapie erst verstehen konnte.

Du hast eine eigene Therapie begonnen?

Ich war verzweifelt. Nichts, was ich versucht habe, hat Jannik geholfen. Mit meinem Hausarzt zu sprechen, war eine Katastrophe. Hausärzte sind für eine solche Beratung oft nicht kompetent. Auch Ratgeber haben nicht geholfen.

Warum nicht?

Es gibt keinen wirklichen Königsweg mit einer Depression. Man kann nicht sagen „Sie haben einen depressiven Partner? Verfolgen Sie folgende sieben Schritte, dann wird alles gut.“ Jeder Mensch, jeder Depressive und auch jede Beziehung ist eigen. Deswegen kann man nur ganz schwer generelle Tipps geben.

Manche der Empfehlungen in Ratgebern sind wirklichkeitsfremd. Zum Beispiel: „Passen Sie Ihren Tagesablauf nicht dem des depressiven Menschen an.“ Das ist zwar richtig, aber in dieser Banalität nicht umsetzbar. Viele Depressive können erst abends aufstehen und gehen morgens ins Bett. Natürlich wäre es für mich besser gewesen, ich hätte mich nicht Janniks Tagesablauf angepasst. Aber dann hätten wir so gut wie keinen Kontakt mehr haben können.

Welcher Rat hätte dir stattdessen geholfen?

„Setzen Sie sich mit jemanden in Verbindung, der Ihnen für Ihren konkreten Fall weiterhelfen kann.“

Das heißt?

Hol dir Hilfe, auf einer fachlichen Ebene. Jemanden, der sich mit Depressionen auskennt, aber den Fokus auf dich als Angehörige legt. Jemanden, der dir sagen kann, wo du in eurer individuellen Situation helfen kannst oder was sie nur verschlimmert. Sich individuelle Hilfe zu holen, ist mein größter Rat. Aber Anlaufstellen für Angehörige fehlen. Hilfe gibt es momentan in der Regel nur bei Psychotherapeuten. Selten auch bei Sozialberatungsstellen.

Hast du Jannik eine Therapie organisiert?

Das konnte ich nicht. Man rennt als Angehöriger gegen Wände. Wenn du Therapeuten anrufst und sagst „Ich möchte einen Termin für meinen Partner ausmachen“, dann sagen dir alle „Nö. Da muss er selber anrufen“ Auch bei Psychiatern. Ich weiß nicht, mit wie vielen Praxen ich telefoniert habe und überall kam die gleiche Antwort. Aber Jannik konnte nicht telefonieren. „Wenn er selber anrufen könnte, bräuchte er nicht zu Ihnen kommen! Das ist ein Teil der Symptomatik“, sagte ich. „Ja, nee, geht nicht“ – fertig.

Warum hast du nicht gewartet, bis er von sich aus zum Arzt geht?

Es gab eine Situation, da kam ich zu Jannik – er wohnte später in meiner Wohnung und ich bei einer Freundin – und meine Wohnung sah...schrecklich aus. Er hat viel getrunken, viel geraucht, weil er sich nicht anders zu helfen wusste. Er hat nicht mehr geputzt. Ich dachte dann lange nach und sprach mit ihm. Danach ist er zum Arzt gegangen.

Was hast du zu ihm gesagt?

„Ich liebe dich von Herzen. Ich will mit dir alt werden. Aber wenn du dich entscheidest, so weiter zu machen, dann gehe ich jetzt. Weil ich vor mir selbst nicht verantworten kann, dabeizubleiben, während du dich zugrunde richtest. Was du gerade tust, ist so selbstzerstörerisch, dass du nicht von mir erwarten kannst, dass ich neben dir hergehe. Du darfst so leben. Solang du niemand anderen schädigst, kannst du mit deinem Leben tun, was du möchtest. Es würde mir das Herz brechen, klar, aber das ist dein Recht.“

„Die Angst davor, dass er sich irgendwann umbringen könnte, war sehr groß“

Hast du manchmal gedacht, Jannik könnte Suizid begehen?

Die Angst davor, dass er sich irgendwann umbringen könnte, war sehr groß. Es war absolut furchtbar. Ich habe ihn, wenn ich nicht bei ihm sein konnte, immer wieder gefragt „Kann ich mich darauf verlassen, dass du dir nichts antust?“ Und er hat mich beruhigt: Jannik hat nie mit dem Gedanken gespielt. Aber das Beste, was man machen kann, ist ganz offen darüber zu reden.

Depressive sind oft gereizt. Hat das nicht zu Streit geführt?

Jannik war immer ein unglaublich liebevoller und freundlicher Mensch, doch ist teilweise sehr unfreundlich geworden, aus der Situation heraus. Da habe ich mich aber immer sehr verwehrt. Ich habe immer gesagt „Ich geh mit dir durch dick und dünn, aber wenn du mich schlecht behandelst, musst du allein klarkommen.“ Ohne Respekt geht nichts. Auch in dieser Situation muss das gelten: Freundlich oder wenigstens neutral.

Themenwechsel: Hast du geglaubt, du seist schuld an Janniks Situation?

Ich dachte nicht, ich sei schuld an der Depression selbst. Aber ich war oft Auslöser für seine Zusammenbrüche. Weil er mit normalen menschlichen Reaktionen – Ärger, Frustration oder Trauer – nicht mehr umgehen konnte. Das bedeutet, obwohl ich nichts Schlimmes gemacht hab, mich zum Beispiel nur ein bisschen beschwert hab, war ich die Auslöserin für etwas sehr Schlimmes. Und konnte dabei zusehen, wie er sprichwörtlich zusammenbricht. Egal wie sehr man das rationalisiert, ist es sehr schwer, sich nicht schuldig zu fühlen. Sehr geholfen haben mir dann Gespräche mit Jannik. Er hat selbst Verantwortung übernommen für diese Fälle. Er sagte oft, er wünschte, er könnte anders reagieren. Aber seine Reaktion sei nicht meine Schuld.

„Wir beide wissen jetzt, was wir als Paar tun können“

Was hat Jannik dann geholfen, damit es ihm Stück für Stück besser ging?

Bei ihm hat es mit dem Joggen angefangen. Das ging, weil er immer sportlich war. Er meinte, er würde drinnen wahnsinnig. Und er wusste, es geht ihm schlecht und dagegen muss er etwas tun. Also ist er joggen gegangen. Nachts, weil da die Menschen fehlten, die Lautstärke und der Stress. Danach ging es ihm immer total gut und ich war total glücklich, weil das so war. Dann folgte die Therapie – die er bis heute weiterführt – dann das Klettern, dann Medikamente und unsere sehr gute Paartherapie.

Die Rückfallquote bei Depressiven geht signifikant zurück, wenn der Partner in die Psychotherapie mit einbezogen wird – das ist mehrfach mit Studien belegt! Aber man muss eine Paartherapie selbst finanzieren. Das zahlt keine gesetzliche Krankenkasse. Anfragen kann man aber bei kirchlichen Stellen, der Diakonie oder der Caritas.

Es ist wichtig, dass so früh wie möglich eine gute Psychotherapie da ist und wenn nötig eine gute medikamentöse Begleitung, die nicht vom Hausarzt verschrieben ist, sondern vom Psychiater. Es ist hilfreich, wenn man selbst als Angehöriger eine Beratungsbegleitung von einem Experten hat. Es war eine Kombination von vielen Dingen, die uns am Ende helfen konnte.

Jannik ist jetzt gesund. Hast du Angst vor einem Rückfall?

Angst nicht. Eher Sorge. Aber nicht so wahnsinnig stark. Weil wir beide jetzt wissen, was wir als Paar tun können, um die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls extrem zu verringern. Jannik hat sich angepasst an seinen Seelenbedarf. Das ist, was die Psychotherapie bewirkt hat. Ich achte auch darauf und sage ihm auch, wenn mir was auffällt. Aber er kriegt das allein jetzt auch total gut hin.

Anmerkung der Redaktion: Wenn Du Dich selbst von Depressionen oder Suizidgedanken betroffen fühlst, kontaktiere bitte umgehend die Telefonseelsorge oder U25. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 gibt es Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

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