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Warum man so schnell wie möglich ausziehen sollte

Foto: cydonna / photocase.de

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Letztes Wochenende: Viel zu lang feiern gewesen, viel zu spät aufgestanden, den ganzen Sonntag verpennt. Wieder nichts geschafft. Das Bad werde ich dann doch wieder nachts putzen, einkaufen habe ich vergessen und die Steuererklärung wird wohl auch auf nächste Woche verschoben. Wäre schon praktisch, an solchen Tagen jemanden zu haben, der mir ein bisschen in den Hintern tritt. Jemanden, der mich rechtzeitig weckt, bevor der ganze Tag verschlafen ist, mich daran erinnert, dass die Zeit umgestellt wurde und den Kühlschrank füllt, damit es nicht schon wieder Pizza gibt. Früher wären das meine Eltern gewesen. Aber da wohne ich schon sehr lange nicht mehr. Und das ist auch gut so. 

Ein paar Annehmlichkeiten des Nesthockens vermisse ich schon. Das Gefühl, umsorgt zu werden, mal kurz das Auto ausleihen können, frische Brötchen am Sonntag. Aber nach fast fünf Jahren alleine wohnen kann ich Resümee ziehen und behaupten, ich habe sie gegen sehr viel größere Freiheiten eingetauscht. Wenn ich die auflisten würde, käme die klassische Coming-of-Age Liste raus: kein Rechtfertigungszwang nach durchzechten Nächten oder tagelanger Prokrastination, kein Aufräumdruck, Rauchen auf dem Klo erlaubt, eigentlich überall in der Wohnung. Jeder, der behauptet, dieser Tausch geht nicht auf, hat die große Freiheit nie gekostet.

Und das sind doch erschreckend viele Menschen in meinem Alter. Laut einer Umfrage des Statistischen Bundesamts geht der Trend tatsächlich zum Nesthocken. Vier von zehn 25-Jährigen leben heute noch zu Hause. Die Generation unserer Eltern war damals nicht so gemütlich. Vor dreißig Jahren waren es nur halb so viele. Woran das liegt, geht aus der Studie nicht hervor. 

Vielleicht haben wir weniger Konflikte mit unseren Eltern und es deshalb nicht mehr so eilig, von zu Hause wegzukommen. Vielleicht sind wir unselbstständiger geworden. Vielleicht ist es aber auch eine schnöde Geldfrage. Das ist auch der einzige Erklärungsansatz, den die Studie liefert: Früher waren die Ausbildungszeiten kürzer, man fing schneller an zu arbeiten. Eigenes Geld, eigene Wohnung. Die Budgetfrage ist natürlich nicht unerheblich. In Zeiten von BAföG, Stipendien und bezahlten Ausbildungsplätzen aber auch nicht wirklich eine Ausrede. Ich glaube, es ist eher der Hang zur Gewohnheit, der andere so lange zu Hause hält. Die pure Bequemlichkeit.

Jungs tun sich scheinbar schwerer als Mädchen, sich von zu Hause loszueisen.

In meinem Freundeskreis gibt es nur wenige Nesthocker. Einer davon erklärt mir: „Ich habe endlich ein Verhältnis zu meinen Eltern, wo wir uns auf Augenhöhe begegnen. Wir leben zusammen wie ganz normale Mitbewohner. Ich arbeite um die Ecke und habe keinen Grund, auszuziehen.“ Tatsächlich? Meine Mitbewohner fragen mich nicht, ob ich warm genug angezogen bin, wenn draußen der Wind pfeift. Sie wundern sich auch nicht, wenn ich mal eine Nacht nicht im eigenen Bett schlafe. Sie stellen keine Regeln für die Benutzung der Mikrowelle auf.

Bezeichnenderweise ist der erwähnte Nesthocker-Freund männlich. Jungs tun sich laut Statistischem Bundesamt scheinbar schwerer als Mädchen, sich von zu Hause loszueisen. Je älter wir werden, desto größer wird die Schere: Zwölf Prozent der Männer leben mit 30 Jahren noch zu Hause, bei den gleichaltrigen Frauen sind es nur noch fünf Prozent. Männern, die in dem Alter noch zu Hause wohnen, haftet automatisch das unattraktive Muttersöhnchen-Klischee an. Egal wie großartig das Verhältnis zu den Eltern auch sein mag, es ist nicht cool, mit 30 noch zu Hause zu wohnen. Ich weiß, dass ich mit meinem Urteil hart bin. Aber für mich verweist das auch auf eine Lebenseinstellung, die einfach nicht sexy ist: Bequemlichkeit, Uneigenständigkeit und Engstirnigkeit. Denn offensichtlich hat sich diese Person nie getraut, über die gewohnten vier Wände der letzten 25 bis 30 Jahre hinauszudenken. 

 

Wer in seinen besten Jahren zu Hause bleibt, verpasst eben auch das Beste. Neben den  offensichtlichen Vorteilen wie dem Ausreizen des Müllrausbringens bis zum äußersten Limit, beschleunigt das Ausziehen das Erwachsenwerden wie kaum ein anderer Schritt im Leben. In diversen WG-Konstellation konnte ich mir meine Patchwork-Familie selbst wählen und musste dabei immer wieder eigene Verhaltensweisen überdenken, die ich zu Hause nie in Frage gestellt hätte. Und die Eltern sind ja nicht weg, sie sind nur woanders. In der Wahlfamilie gibt es keine Bringschuld qua genetischer Verwandtschaft, keine eingefleischten Muster, sondern eine Form des Zusammenlebens, auf die man sich gemeinsam einigt. Dazu gehört auch, dass es völlig okay ist, sich jeden Sonntag Pizza zu bestellen und den ganzen Tag im Schlafanzug rumzulaufen. Und dass niemand sterben wird, wenn das Bad erst am Montag geputzt wird. 

 

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