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Der Urlaub, der nie war

Foto: time. / photocase.de. Illustration: Lucia Götz

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Es war der erste Tag nach den großen Ferien, im strömenden Regen rannte ich in das Schulgebäude. Als ich in die Klasse kam, schickte mich meine Lehrerin sofort zur Tafel; mit zwei anderen war ich dazu verdammt worden, von meinen Ferien erzählen. Wir standen zu dritt vor der Klasse, durchnässt, außer Atem.  Ich war zehn, unsere Beiträge sollten später benotet werden. Sabrina war mit ihren Eltern an die Ostsee gefahren, Erkan zu seiner Großmutter nach Istanbul. Ich war das erste Mal seit Jahren zu Hause geblieben. 

Seit ich denken konnte, war ich jeden Sommer mit meinen Eltern nach Modena gefahren. Immer, wenn mein Vater, der es als Gastarbeiter in Deutschland zu Geld gebracht hatte, nach Hause kam, fiel der italienischen Familie urplötzlich ein, dass die Waschmaschine vor Monaten kaputt gegangen war. Nonna Rosa, meine Großmutter, lag ihrem Sohn wegen brüchiger Haare in den Ohren – zu lange war sie nicht beim Frisör gewesen – und jetzt, wo der hohe, deutsche Besuch da war, fand sie es angemessen, mit der ganzen Sippschaft essen zu gehen. Alles auf unsere Kosten.

Ich weiß nicht, ob das die Gründe waren, warum wir im Sommer '96 zu Hause geblieben sind, oder ob es an der generellen Wirtschaftslage unserer Familie lag. Jedenfalls drang die Ansage wie ein Donnerschlag in mein Bewusstsein: Wir würden nicht nach Italien fahren. Dieses Jahr würde es keinen Sommerurlaub geben.

Dabei hatte ich doch vor den Ferien groß geprahlt. Ich hatte meinen Mitschülern eine Reise angekündigt, die zu meinem Leben gehörte, wie das tägliche Nutellabrot. Hatte lauthals erzählt, dass ich in Italien so viel Pizza essen dürfte, bis mir der Teig aus den Ohren herauskommt. Nun stand ich nach sechs Wochen vor der Klasse, war keinen Deut dicker geworden und würde berichten müssen, dass dieses Jahr kein Italien stattgefunden hatte. Dass wir niemals losgefahren waren, dass ich sechs Wochen lang Diddl Blätter sortiert und Sticker in mein Album eingeklebt hatte.

Damals, in den Neunzigern, als noch nicht jeder durch die Weltgeschichte reisen konnte, war mein Italien eine Rarität. Mein Publikum erwartete eine Geschichte, die ihren grauen Schulalltag durchbrach. Wie hätte ich sie enttäuschen können? Ich begann also zu erzählen, erfand mein eigenes Italien. Natürlich war ich da gewesen, meine detaillierten Ausführungen ließen keinen Zweifel: Ich fluchte über die muffige Hitze in Mailand, lachte über den Verkehr in Rom, in dem eine rote Ampel nicht mehr als ein Farbenspiel war, tauchte meinen Kopf im azurblauen Meer von Messina unter und spielte in den Gassen von Palermo mit räudigen Straßenkindern. 

Die Klasse grölte, es war klar, wer diesen Wettbewerb gewonnen hatte. Von Sabrinas Ostsee brauchen wir gar nicht erst anzufangen, die war damals schon scheiße. Auch Erkans Istanbul war ein Witz. Das Wetter war nicht mehr als „schön“ gewesen, das Meer einfach nur „toll“ und ihm war es schlicht „sehr gut“ ergangen. Das war ein Albtraum von einem Urlaub, kein menschliches Drama hatte sich ereignet, kein Pfennig Schutzgeld war aus seiner Tasche in die eines türkischen Oligarchen geflossen; nicht mal ein wildes Katzenbaby hatte er im Garten seiner Großmutter hochgezogen. Im Gegensatz zu meinen Widersachern bekam ich eine glatte Eins.

Knapp jeder vierte Deutsche redet sich seinen Urlaub im Nachhinein schöner

Karl May hat ein Abenteuer im Wilden Westen und Orient nach dem anderen erfunden, dabei trat er seine erste große Auslandsreise erst mit Ende 50 an. 2011 war im Zuge einer Studie von lastminute.de herausgekommen, dass knapp jeder vierte Deutsche im Nachhinein seinen Urlaub vor anderen schöner redet, als er tatsächlich war. Ich übertreibe nicht, wenn ich hier und heute gestehe, dass ich in meinen dreißig Lebensjahren keinen besseren Urlaub als jenen erfundenen erlebt habe. Dabei bin ich wochenlang durch Kuba gelaufen, bin mit der Transsibirischen Eisenbahn in das winterliche Irkutsk eingefahren, habe Europas demokratische Abkehr im sowjetischen Transnistrien erlebt. Aber das Italien, das ich mir im Sommer 1996 vor aller Augen zusammengesponnen habe, hinterließ eine Sehnsucht in mir, die ich bis heute nicht stillen konnte.

Denn in diesem Jahr gab es einfach keine echten Erfahrungen, die meine Hoffnungen hätten enttäuschen können. Vielleicht neigen wir Deutschen deshalb zu Übertreibungen: Wir wollen uns der vermeintlich schönsten Zeit des Jahres nicht selbst berauben. Zu viel hängt an diesen Tagen der Entspannung, an den Wochen des Abschaltens. Sodass es am Ende manchmal besser gewesen wäre, zu Hause zu bleiben. Aber Abschalten alleine ist halt keine gute Geschichte.

Damals als Kind, mit ausgeprägtem Hang zur Selbstdarstellung, war es mir unmöglich das Urlaubsversagen meines Vaters vor aller Ohren auszubreiten. Heute aber wirft diese kindliche Lügengeschichte tiefe Fragen in mir auf: Ist die Illusion einer Reise intensiver, als das wirkliche Erleben? So wie Erinnerungen stets schillernder erscheinen, als die gefühlte, unmittelbare Gegenwart? Lässt uns die Aussicht auf zukünftige Urlaube vielleicht sogar innerlich stagnieren, gerade in Zeiten, in der wir scheinbar ständig unterwegs sind – weil ein Leben voller Möglichkeiten eben auch unweigerlich in Entscheidungsunfähigkeit mündet? Mir scheint, wir alle sind für immer in unserem eigenen, perfekten Italien gefangen. Nie wird es einen Urlaub, gar ein Leben für uns geben, auf das wir uns mit ganzem Herzen einlassen können.

Nach diesem ersten Schultag hatte ich Albträume, ich flehte meinen Vater an, nicht zum Elternsprechtag zu gehen. Ich hatte Angst, dass meine Lüge auffliegen würde, dass ich die Schule oder gar den Ort verlassen müsste. Aber ich war mir stets im Klaren, dass es – wäre es wirklich zu diesem gezwungenen Austritt aus der Gesellschaft gekommen – einen Ort auf der Welt gab, der mich aufgenommen hätte. Ich wäre nach Italien gegangen.

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