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Warum wir gerade so viele tote Superstars betrauern …

Collage: Daniela Rudolf

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 „2016, Du Arschloch!“, lasen wir dieses Jahr fast im Wochentakt. Hat sich Gott gegen all die tollen Menschen verschworen? Will er sie nur nah bei sich haben? Beides Blödsinn natürlich. Tatsächlich hat das Jahr 2016 mit diesem hochkarätigen Massensterben nichts zu tun. Es erntet nur, was wann anders gesät wurde. Was auch heißt: Das dicke Ende kommt erst noch.

Aus zwei Gründen:  Zum einen produzierte die Welt nach dem zweiten Weltkrieg schließlich eine regelrechte Menschenschwemme, die dann ab etwa 1965 mit dem Pillenknick rasant einbrach. Salopp gesagt heißt das: Es sind auch gerade viele da, bei denen der Tod zumindest nicht mehr komplett überraschend kommt. Zum anderen trauern wir nicht um Hintz und Kuntz, sondern um Künstler. Und gerade Künstlern der Jahrgänge '55 bis '65 ging es besonders gut: In den vergleichsweise goldenen Siebziger- und Achtzigerjahren teilte sich eine sehr überschaubare Zahl von Megastars die gesamte mediale Aufmerksamkeit, ohne dass Youtuber und Web-Celebrities am Kuchen mitnagten. Von dieser historisch komfortabel gebetteten Künstlergeneration leben die allermeisten noch – und viele von ihnen immer noch im Legenden-Status. Kurz: Wir stehen erst am Anfang und müssen bis auf Weiteres ganz stark sein.

Eine ganz neue Trauerkultur

Soviel zu den Sterbenden. Kommen wir zu den Trauernden: So wie das Phänomen Shitstorm eine vernetzte Personenzahl x voraussetzt, erfordert auch der RIPstorm die entsprechenden Social-Media-Bedingungen. Es fühlt sich zwar so an, als hätten wir schon unser halbes Leben lang unsere tiefste Anteilnahme im Internet geteilt, aber so lange ist das noch gar nicht her – den Facebook-Like-Button gibt’s erst seit dem Februar 2009. Kurz darauf starb Michael Jackson. Tragisch, weil er nur 50 Jahre alt wurde. Beinahe noch ein bisschen tragischer, weil ihm die Geschichte auch noch den angemessenen Social-Media-Abgang verwehrte.

Man stelle sich nur mal vor, Michael Jackson wäre nicht 2009 von uns gegangen, sondern nur sieben Jahre später. Spätestens nach Obamas Moonwalk durch den Rose Garden des Weißen Hauses, den er mit Sicherheit über die White-House-Facebook-Page geteilt hätte, wäre das Internet kollabiert. Sterben ist nie schön, aber es dürfte doch tröstlich für die Madonnas, Paul McCartneys und Udo Lindenbergs dieser Welt sein, bis jetzt durchgehalten zu haben – von deren Labels ganz zu schweigen. Denn erst seit wenigen Jahren ist die Menschheit technisch zu diesen Erdrutsch-Kondolenzen in der Lage.

Für die Jüngeren soll hier betont werden, dass besagte Trauerkultur vor der Internet-Ära eine Gedenk-Lotterie von zynischster Ungerechtigkeit war: Wenige Gate-Keeper-Medien (Radio, TV, Zeitung) entschieden, in welchem Maßstab an verstorbene Persönlichkeiten erinnert wurde. Wer während einer Fußballweltmeisterschaft verschied, den wähnen Zeitgenossen von damals wahrscheinlich immer noch unter den Lebenden. Heute sind "die Medien" ja eigentlich wir alle: Ein komplexer Schwarm-Organismus, der Trending Topics gebiert, denen sich die Gate-Keeper von damals klaglos anschließen. 

Man kann die ganzen Reflex-Kondolenzen, die nach Lemmy, Bowie, Prince unsere Timelines fluteten, blöd, überflüssig und/oder schmierig finden – aber am Ende führt jede einzelne Erwähnung und jeder Hashtag zu einer Kollektivverneigung, die dem verstorbenen Künstler eher doch stark geschmeichelt hätte. Teilweise angestaubte Fragmente eines Werkes werden so urgewaltig aufgewirbelt, dass frisch Verstorbene nicht selten blutige Verehrer gerade durch den letzten PR-Stunt gewinnen.  

Nehmen wir David Bowie: Zu Lebzeiten war er ein Held meiner Eltern und hatte allein dadurch schon keine Chance bei mir. In der Prä-Internet-Ära hätte es zu seinem Tod einen zweiminütigen Tagesschau-Einspieler gegeben, hinterher noch einen alten Konzert-Mitschnitt auf einem der dritten Programme und tags darauf einen Nachruf in der Zeitung – DPA-Text mit leicht umgestellten Sätzen. Im Januar 2016 war es hingegen unmöglich, nicht wenigstens ein halber Bowie-Experte zu werden.  

Zum Glück. Irgendwann wurde ich schwach bei einem dieser beknackten, aber dann doch effektiven You-Won't-Believe-Artikel: Ein alter Weggefährte Bowies stellte einen Studio-Mitschnitt online, in dem der Meister während einer Bandprobe Bruce Springsteen, Bob Dylan und Tom Waits imitierte. Mein Widerstand war gebrochen, ich wurde Fan. Weil David Bowie zum richtigen Zeitpunkt gestorben war. 

Jetzt wäre die perfekte Zeit zu sterben

Unterstellen wir also Persönlichkeiten, maximale Aufmerksamkeit für ihr Werk generieren zu wollen, dann ist jetzt die perfekte Zeit zu sterben. Das soll keine Handlungsempfehlung sein, aber schon bald könnte sich ein Inflationseffekt einstellen. Das Internet ist ein ungeduldiger Zeitraffer, der in immer kürzeren Abständen Stars produziert. Wir müssen uns darauf einstellen, demnächst im Tagesrhythmus Giganten zu verabschieden – da können und wollen wir gar nicht jedem einzelnen wochenlang und exklusiv hinterher weinen.

 

Was passiert, wenn Madonna und Steven Spielberg am selben Tag sterben? Führt Facebook den nur dreimal im Leben klickbaren RIP-Button ein, damit wir bewusster trauern? Haben Stars bereits Promo-Pakete für den Todestag in der Pipeline, oder ist das vielleicht schon Vertragsbestandteil diverser Labels? Ich denke an Guido Westerwelle und komme zum Schluss: Wenn wir den Menschen zu Lebzeiten mehr Respekt entgegenbringen, dann trauert's sich hinterher entspannter.

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