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Zu viel Gepäck gibt es nicht

Illustration: Katharina Bitzl

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Egal, wohin ich fahre, ein bisschen zu viel habe ich eigentlich immer dabei. In meiner Handtasche trage ich Wasser mit mir herum, das ich vergesse zu trinken, drei Lippenstifte, die ich fast nie benutze, ein Magazin, das ich nicht lese, Stifte, mit denen ich nie schreibe, weil ich ein Smartphone habe. Aber: Könnte ja sein, dass ich doch irgendwann was notieren möchte und das Handy grade leer ist. Oder dass  ich doch mal plötzlich Lust auf rote Lippen kriege. 

Im Urlaub multipliziert sich das alles: Nach einer Woche in Italien habe ich ziemlich viel Kleidung im Koffer, die ich exakt null Mal anhatte. Dazu fünf ungelesene Magazine und Bücher. Am schlimmsten war mein Erasmussemester. Mein Vermieter war ein verschrobener Pariser Intellektueller, der unnötigen Konsum verabscheut. Er war entsetzt, als er mein Gepäck gesehen hat. Trotzdem hat er mir geholfen, zwei Koffer und eine Reisetasche in den fünften Stock zu schleppen. Bei meiner Abreise musste ich alles alleine tragen. Bestimmt dachte er: Soll sie ihr Zeug doch selbst schleppen. Selber schuld, wenn man sich nicht einschränken kann. Und genau das ist der Punkt: Eigentlich ist es ganz allein meine Sache, wenn ich zu viel mitnehme. Ich habe gerne Auswahl. Und schließlich muss ich das alles ja tragen.

Trotzdem: Irgendwie wird einem immer das Gefühl vermittelt, dass es falsch ist, so viel Zeug mitzunehmen. Bewundert wird man auf einem Zwei-Wochen-Trip nicht für den Koffer mit der großen Auswahl drin, sondern für den leichten Wanderrucksack. Wer aus dem Zug kommend lässig sein Gepäck schultert und elegant die Treppe herunterjoggt, ist der Inbegriff von Flexibilität. Von Kompromisslosigkeit. Von schnellen Entscheidungen. Ich dagegen bin die, die erstmal den nächsten Aufzug sucht und die kaputten Rolltreppen verflucht. Die Unentschlossene, die ihr Leben nicht im Griff hat, keine Entscheidungen treffen kann und deshalb alles lieber vorsichtshalber mitnimmt. Wenig dabei haben gilt entweder als Rock’n’Roll, als Scheiß-drauf-Attitüde. Oder als souverän und organisiert. Viel dabei haben gilt als spießiges Vorsichtsdenken.

Auswahl ist auch immer inspirierend. Abwechslungsreich. Öffnet Raum für Kreativität.

Wenn Leute andere Menschen mit viel Gepäck sehen, dann sind die Reaktionen deshalb meist entweder mitleidig oder ein bisschen spöttisch. Und ja: Viel Gepäck kann nerven. Aber diejenigen, die einen auslachen, weil man so viel dabei hat, denken einen Schritt zu kurz. Es stimmt schon, dass ich ein Faible für schöne Dinge habe. Aber belaste ich deswegen mein Leben mit zu viel Kram? Bin ich deswegen ein Messie? Ich glaube nicht. Es ist totaler Quatsch, sich wegen zu vielen Koffern schlecht zu fühlen.

Denn was die Schlankes-Gepäck-Fanatiker vergessen:  Auswahl ist auch immer inspirierend. Abwechslungsreich. Öffnet Raum für Kreativität. Es ist schön, sich am Strand zwischen drei Büchern entscheiden zu können. Oder am Ende doch nur faul die Gedanken schweifen zu lassen. Ich überlege morgens gern, was ich anziehen will. Und ich freue mich auch heute immer noch über die dreißig Kunstpostkarten, die ich vor zwei Jahren in Rom gekauft und nach Hause getragen habe.

Was allerdings noch viel wichtiger ist: Auswahl ist eben auch praktisch. Wer muss im Urlaub nie einen neuen Regenschirm kaufen? Wer kann sich immer umziehen, wenn er einen Fleck auf dem T-Shirt hat? Wer ist nicht auf die schlechten Romane am Kiosk angewiesen, weil der Lesestoff ausgeht? Genau: Menschen mit viel Gepäck. Und wenn ich im Urlaub ein zweites Paar Schuhe tragen kann, weil das erste nass geworden ist, dann ist das praktisch. Flexibel. Souverän. Und spart Geld. Ich habe dann Zuhause eben nicht die dritte Regenjacke im Schrank hängen, weil ich mir immer wieder eine neue kaufen muss. Dieses Geld kann ich dann für Wichtigeres und Schöneres ausgeben (wie zum Beispiel Kunstpostkarten. Oder Drinks.) Und ganz ehrlich: Das alles ist dann im Zweifelsfall eben doch wieder cooler und souveräner, als mit wenig Gepäck elegant die Bahnhofstreppe runterzujoggen.ie

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