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Das Schwestermonster in mir

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Das Monster in mir will den Brief, der selbstverständlich nicht an mich adressiert ist und mich somit rein gar nichts angeht, direkt aufmachen. „Studiensekretariat Universität Marburg“ steht darauf, der Empfänger ist Felix, mein kleiner Bruder. Ein stinknormaler Umschlag, Durchschnittsformat, definitiv keine Einschreibungsunterlagen. "Vermutlich ein Zugangscode zu irgendwelchen Ersti-Foren. Eine Bibliothekskarte. Was Harmloses halt", beruhige ich das ältere-Schwester-Monster in mir. Der Brief kann hier ruhig noch ein bisschen auf dem Küchentisch liegen bleiben, Felix wird ihn schon sehen. Wenn er dann mal von GTA V aufsteht. Und selbst wenn nicht – er hat das schon im Griff. Immerhin ist er schon zwanzig. Da weiß man, dass man Post öffnen muss. Dass die Uni nicht auf einen wartet und man nicht auf den guten Willen der Lehrer hoffen kann, wenn man irgendeine Frist verpennt. Das Abi hat er ja auch irgendwie geschafft. Er wird’s schon hinkriegen.

"Andererseits zieht Felix immer noch ziemlich häufig seine Pullover auf links an", meldet sich das Monster zu Wort. In der Tat kann er besser Zigaretten drehen als die Waschmaschine bedienen und neulich hat er mich erst gefragt, wie man eigentlich eine Überweisung tätigt. Also was, wenn es doch vielleicht eine Mahnung ist? Für den Studentenwerksbeitrag? Das Semesterticket? Ich muss ihn auf jeden Fall daran erinnern, seine Sachen gut abzuheften. Hat er mittlerweile eigentlich das mit der Krankenversicherung geklärt? Mein inneres Monster will ihn am liebsten doch anrufen und an all das erinnern. Ich zwinge es in einen Maulkorb.

Als Felix vor einem halben Jahr das Abi gemacht hat, war erstmal eine ziemlich große Leere in seinem Kopf. Er wusste nicht, was er studieren will, geschweige, wie studieren überhaupt geht. Also hat er die Entscheidung vertagt und erstmal abgehangen. Ich fand das nicht schlimm, schließlich war ich nach dem Abi auch komplett verwirrt, wenn mir Menschen etwas von Credit Points, der Bologna Reform und dem Unterschied zwischen Prüfungs- und Studienleistungen erzählten. Mit dem Ende des Junis wurde ich aber doch etwas unruhig. Auf Nachfragen, wofür er sich denn nun bewerben will, nuschelte er was von "ichhabdasimgriffvielleichtwasgeistenswissenschaftliches". Aha. Zu diesem Zeitpunkt erwachte das Monster in mir zum Leben. Es hat sehr große Augen und Ohren und beobachtet jeden Schritt meines kleinen Bruders. Denn ich habe Angst. Was, wenn er sein Leben vor die Wand fährt, weil ich ihm nicht geholfen habe? Andererseits weiß ich ja, dass jeder seine eigenen Fehler machen muss. Dass Studienentscheidungen nur gut sein können, wenn man sie selber getroffen haben. Der übliche pädagogische Mist. Also habe ich versucht, das Monster einzusperren. Es noch ein bisschen im Kellerverlies schmoren zu lassen. Bis es Juli wurde.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


„Wie läuft'n das eigentlich mit dem Bewerben für die Uni?“ fragte mich Felix da. Es war bereits der Sechste. Kurz vor der Guilliotine für das Wintersemester also. Und Felix hatte noch rein gar nichts getan. "Scheiß auf pädagogisch wertvolles Verhalten" fauchte das Monster in mir und blies Rauch aus seinen Nüstern. Also setzten wir uns vor den Computer, Felix, das Monster und ich. Recherchierten, was ihn eigentlich interessiert und wo er das studieren könnte. Der „Hochschulkompass“, „was-studiere-ich“ - alles Seiten, die ich noch von meiner eigenen Studienentscheidung kannte. Wir machten einen Termin bei der Bundesagentur für Arbeit bei der Berufsberatung und ziemlich oft hörte ich den Satz „das hab ich damals auch so gemacht“ aus meinem Mund. Das Monster und ich fühlten uns sehr erwachsen und vorbildhaft. Bis ich irgendwann merkte, dass eigentlich nicht „wir“ all diese Dinge tun – sondern ich. Felix saß nur daneben, festgeklebt in seine Sitzsack und mit einem Gesicht, als würde er gleich der Datenschutzerklärung von Facebook zustimmen müssen: komplettes Desinteresse. Ihm war eigentlich komplett egal, für was ich ihn da anmelde. Hauptsache irgendein Studium. Ich wurde wütend. Was ich daraufhin zu ihm sagte klang, als wäre ich unsere Mutter. Etwas mit „es ist deine Zukunft“, "undankbar" und „dann mach es halt selber!“ und ich verließ den Raum. Zwei Minuten später kam ich zurück und setzte mich wieder hin. Das Monster hatte mich daran erinnert, dass er alleine vermutlich nicht wissen würden, mit welchen Briefmarken man die großen Unibewerbungsumschläge frankieren muss.

Woran liegt es, dass man als älteres Geschwisterkind automatisch das Leben der Kleineren mitregeln will? Irgendwie ist sicher die Konstellation "große Schwester - kleiner Bruder" schuld. In meinem Kopf ist er immer noch sechs und freut sich, wenn ich mit ihm mit Matchbox-Autos spiele. Nur, dass die Blechautos jetzt halt durchs Vorlesungsverzeichnis ersetzt wurden.

Zum anderen sagt das Ganze aber auch etwas über mich aus. Mit meinen ja eigentlich überflüssigen Hilfsangeboten versichere ich mir, immer noch wichtig für ihn zu sein. Dass ich eine gute große Schwester bin, die ihre Rolle und sich selbst furchtbar ernst nimmt. Halt die große Schwester, die ich gerne gehabt hätte. Mein inneres Monster ist also auch ein Selbstzweck. Schließlich wird auch Felix irgendwann die Nähte seiner Pullover nach innen drehen und ökologisch-wertvolles Waschmittel ins richtige Fach der Maschine kippen. Und was hab ich dann noch zu tun?

Nach unserem Streit über Felix' Zukunft haben das Monster und ich uns zumindest weitestegehend zurückgezogen. Die Entscheidung, in Marburg zu studieren, hat er dann alleine getroffen. Das Monster in mir war ein wenig gekränkt, dass er nicht unseren Rat gesucht hat. Aber die ältere Schwester in mir war natürlich auch stolz, dass er es alleine geschafft hat. Vor zwei Wochen  rief Felix mich dann an. Sagte was von „Ich finde keine Wohnung“ und „keiner mag Erstsemester, keiner will mich“. Das Monster und ich rangen miteinander. "Warst du schon auf WG gesucht?", fragte ich und wollte hart bleiben. Aber das Monster in mir spuckte Feuer und wurde fuchsteufelswild bei der Vorstellung, dass Menschen meinen armen kleinen Bruder nicht immer in ihrer Nähe haben wollen. Als wir aufgelegt hatten, klappte ich den Laptop auf, öffnete Facebook und schaltete eine Wohnungsannonce. Dabei kenne ich keine Sau in Marburg. Über Freunde haben sich dann trotzdem Leute gemeldet. Noch habe ich das Felix nicht gesagt. Da muss er dann schon noch einmal anrufen und mir das Gefühl geben, wichtig zu sein. Zumindest ein bisschen. Das Monster in mir hat sich über diese Aktion auch ein bisschen beruhigt und will keinen mehr fressen. Im Gegenteil: Manchmal kann ich es leise kichern hören in Anbetracht von so viel Selbstbetrug.


Text: friederike-vonhelden - Illustration: Yi Luo

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