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Der Ungeliebte

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Vorweg eins: Ich weiß, dass es normal ist, einige Menschen anderen vorzuziehen. Das hat nichts mit Boshaftigkeit oder Unhöflichkeit zu tun. Sondern mit einer, nennen wir sie klischeehaft: zwischenmenschlichen Chemie. Dass man deshalb nicht nur unter Bekannten, sondern auch innerhalb der engsten Familie einige Menschen anderen vorzieht, ist logisch. Freunde aber kann man sich aussuchen. Familie nicht. Wen man hier nicht mag, den wird man nicht los. Er hängt zu sehr an den anderen mit dran: Vater, Mutter, Geschwister, manchmal auch Großeltern, werden regelmäßig gemeinsam besucht, antelefoniert, und so weiter.

Man tut also gut dran, alle so zu nehmen, wie sie sind. Aber so einfach ist das nicht. Manchmal mag man ein Familienmitglied lieber als andere und das ist ein großes Problem. Denn irgendwo steht im ungeschriebenen Moralkodex die Regel, dass man in der Familie keine Liebesunterschiede machen darf. Beziehungsweise, dass man versuchen muss, sie zu relativieren und wegzudrücken. Wo käme man da auch hin, wenn die Eltern einem sagten: Es tut mir leid, dass ich die nie frage, ob wir gemeinsam wandern gehen, ich habe eben deinen Bruder lieber.

Wir sind drei Brüder. Der älteste lebt in Köln, mein kleiner Bruder und ich leben in Berlin. Wir jüngsten hängen viel zusammen rum. Wir gehen zusammen boxen, treffen uns am Wochenende zum Frühstück oder Filmabend und oft übernachtet er auch bei mir, obwohl er nur ein paar Straßen weiter wohnt. Wir haben keine Vereinbarung, wir müssen uns voreinander an nichts halten, wir spüren uns einfach und wissen, was der jeweils andere braucht. Das macht es so einfach und so angenehm.

Man kann nicht jeden Menschen mögen. Aber weil wir Geschwister sind, bekommt dieses Ungleichgewicht der Liebe eine grausame Dimension.

Unser großer Bruder ist der Außenseiter. Nicht nur wohnt er weit weg, auch haben wir zu ihm ein kühleres Verhältnis. Mein kleiner Bruder versteht sich etwas besser mit ihm als ich. Er findet ihn zwar auch manchmal seltsam, aber er beißt sich daran nicht so fest. Er begegnet ihm unbekümmerter. Mich hingegen nervt mein großer Bruder meistens. Wir telefonieren deshalb so gut wie nie. Auf seine gutgemeinten, interessierten Nachrichten oder seine Urlaubsbilder reagiere ich knapp und effizient. Mit ihm zu kommunizieren ist für mich lästige Pflicht. Geschwisterpflicht. Familienpflicht. Ich halte zu ihm Kontakt, weil mir die Vorstellung, ihn auszuschließen, das Herz bricht. Er gehört mit dazu, wir sind eine Familie. Aber wenn ich ehrlich bin, fühle ich nicht viel, wenn ich an ihn denke.

Ich kann das nicht einmal konkret begründen. Er ist ein gutmütiger Typ, aufgeschlossen, freundlich. Aber irgendwie haben wir uns schon als Kinder nicht besonders gut verstanden. All das, für das er sich interessierte, hat mich kein bisschen interessiert. Seine Freunde fand ich langweilig, seinen Musikgeschmack auch. Keine Tangenten irgendwie. Seit wir erwachsen sind, bemüht er sich um ein herzliches Verhältnis zu mir, aber ich bleibe meist verschlossen. Er hat eine laute Stimme, eine naiv-altkluge Art. Wenn ich viel Zeit mit ihm verbringen muss, nerven mich diese Eigenschaften irgendwann. Mit ihm darüber zu sprechen, würde ihn nur unnötig verletzen. Es ist einfach seine Art, und die kann er nicht ändern. Soll er ja auch gar nicht. Dass ich damit nicht so gut klarkomme, ist mein Problem. Man kann nicht jeden Menschen mögen. Aber weil wir Geschwister sind, bekommt dieses Ungleichgewicht der Liebe eine grausame Dimension.

Neulich wollte er zu Besuch nach Berlin kommen. Meistens wohnt er dann bei meinem kleinen Bruder. Dieser hat aber gerade eine etwas komplizierte Affäre und noch dazu mit seinem dualen Studium viel zu tun, also verwies er ihn diesmal auf mich als Gastgeber. Ich hätte sogar etwas Zeit gehabt, aber die wollte ich lieber zu etwas nutzen, das mir Spaß macht. Meine Ruhe haben, lesen, zu Hause rumhängen, vielleicht mal Freunde zum Essen einladen, sowas. Die Vorstellung, stattdessen vier Nächte lang meinen für mich anstrengenden Bruder in meinem Bett schlafen zu lassen, hat mich fast körperlich beklemmt. Ich wollte das nicht. Und wenn unsere Eltern uns eine Sache beigebracht haben, dann, dass man nie etwas machen muss, was man nicht will. Aber ich wusste nicht, wie ich meinem großen Bruder das sagen sollte. Es hätte ihn verletzt.

Ich habe also meinen kleinen Bruder gefragt, was ich jetzt machen soll. Er konnte nichts dazu sagen. Er wollte nichts dazu sagen. Ich habe gemerkt, dass ihn mein Geständnis traurig gemacht hat. Die Liebeserklärung, die es umgekehrt ja an ihn bedeutet hat, hat ihn beschämt und stellvertretend für unseren großen Bruder furchtbar traurig gemacht. Ich habe ihm dadurch eine Art Schuld aufgeladen. Die Schuld, der Liebling zu sein. Da wurde mir die Tragweite der Familienverpflichtung erst richtig bewusst. Sich gegen einen zu entscheiden, heißt, alle zu verletzen.

Mein kleiner Bruder war dafür, dass ich unseren großen Bruder trotzdem einlade. Ich habe drüber geschlafen und noch mal drüber geschlafen und mich dagegen entschieden. Kurz hatte ich überlegt, es zum Wohle aller einfach über mich ergehen lassen. Aber dann habe ich alle Male, die wir uns in den letzten Jahren sahen, noch mal Revue passieren lassen und wusste: Ich will das nicht. Es wird mich langweilen und nerven. Es wäre unehrlich, ihn einzuladen und zu riskieren, dass er spürt, wie wenig er willkommen ist. Ich bin nicht gut drin, meine Sympathien und Unsympathien zu verbergen.

Ich habe dann eine Ausrede benutzt und gesagt, dass ich auf eine wichtige Prüfung lernen muss, von der ziemlich viel abhängt. Ich habe ihn gebeten, ein anderes Mal zu kommen. Natürlich in der heimlichen Hoffnung, dass mein anderer Bruder ihn dann wieder beherbergt und ich raus bin aus der Nummer. Hätte sich so eine Situation in einer Freundschaft abgespielt, wäre dies der Punkt gewesen, an dem man sie endgültig beendet. Man hätte gesagt: Du, das mit uns, das ist nichts, das wird auch nichts mehr. Ich fühle das nicht. Lass uns keine Freunde mehr sein. Ist doch für uns beide nicht gut. Schönes Leben noch.

Aber Geschwister sind eben keine Freunde. Man kann sich nicht gegen sie entscheiden, ohne sich damit nicht auch gegen die ganze Familie zu entscheiden. Das klingt mittelalterlich, das klingt revolutionsbedürftig, unaufgeklärt, leblos – aber es scheint so zu sein.

Text: enzo-richter - Illustration: Daniela Rudolf

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