Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Endlich ausschlafen!

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Die letzte schriftliche Prüfung schrieben wir in Deutsch. Es war einer dieser unangenehmen Dienstage, an denen es trotz Regen 20 Grad hat. Wir brauchten einen gefühlten ganzen Tag und irgendwann hatte ich aufgehört die Seiten zu zählen und schrieb, bis man den Stift aus der Hand legen musste. Was ich schrieb, weiß ich allerdings nicht mehr.  

Da standen wir nun: T., M., C. und ich. Die vier Mädchen aus dem Deutsch-Leistungskurs. Draußen im Regen und schossen ein Polaroidfoto. Danach betranken wir uns und wankten alle paar Minuten auf die Schultoilette. Eine Stunde später fuhr jeder nach Hause. Es regnete den ganzen Tag. Zuhause konnte ich mich zwischen meiner Betrunkenheit und der Müdigkeit nach einer sechsstündigen Prüfung kaum wach halten. Am Abend gingen die beiden Deutsch-Leistungskurse noch aus. Unsere Erleichterung ertränkten wir in so viel Alkohol, dass wir am Ende alles andere als erleichtert wirkten. Das Colloquium war Gesprächsthema Nummer Zwei, gleich hinter den schriftlichen Prüfungen. Ich dachte jetzt wäre alles vorbei, doch irgendwie fing es erst richtig an. Es war ein mittelmäßiger Abend. Auf dem Nachhauseweg kotzte ich aus dem Taxi, als es an einer Ampel hielt.  

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Dann war er da: Der erste freie Tag. Endlich ausschlafen, endlich sorgenfrei aufstehen. Meine Mama musste allerdings trotzdem zur Arbeit, meine Schwester zur Schule. Ich hätte damit natürlich kein Problem gehabt und wäre am liebsten den ganzen Tag mit Schlafanzughose und Müslischüssel durch die Wohnung geschlurft. Doch als meine Mama nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kam und sich dann noch um den Haushalt kümmern musste, während ich auf der Couch saß, platzte ihr der Kragen.
Damals war ich mir sicher, dass die beiden nur neidisch waren. Zudem fühlte ich mich missverstanden. Ich hatte so viel geleistet, sollte das der Dank sein?

Die Tage verflogen. Ich Zuhause, ich betrunken am Abend, ich streitend mit meiner Mama. Ich traf mich jeden Tag mit den selben Leuten. Die, die Zeit hatten und das waren wenige. Manchmal vergaß ich völlig, dass andere noch etwas zu tun hatten, rief mitten in der Nacht an oder störte in der Arbeit. Meine Freundin T. merkte sehr schnell, dass ihr die Schule fehlen würde. Ich dachte damals, ich hätte das Schlimmste jetzt hinter mir gehabt: Die Schule.

Plötzlich stand er kurz bevor: der Colloquiumstermin. Gott sei Dank hatte ich mich für ein weniger intensives Lernfach wie Geschichte entschieden. Draußen wurde es warm, der Sommer kam. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Nach diesen Wochen völliger Gehirn-Gammlerei verlangte man nun plötzlich von mir, dass ich drei Semester Geschichtsunterricht innerhalb weniger Tage in meinen Kopf bekommen sollte. Das war zu viel. Geschichte mochte ich immer gerne, aber zu diesem Zeitpunkt ging wirklich nichts mehr.

Ein paar Freunde von mir hatten nur eine Woche Abstand zwischen ihren schriftlichen Prüfungen und dem Colloquium. Zuerst war ich froh, alle schriftlichen Abiprüfungen sofort hinter mir zu haben, im Nachhinein weiß ich, dass diese drei Wochen einfach zu viel waren. Zu viel Zeit, um abszuschalten. Heute bin ich mir sicher, dass ich in diesen Wochen das Lernen verlernt habe.

Draußen hatte es mittlerweile über 30 Grad. Der Raum, in dem ich vor meinen beiden Lehrer vortragen sollte, war dermaßen heiß, dass ich nicht nur die Lust sondern auch den Faden verlor. Es war zu spät, ich hatte zu wenig gelernt. Als ich den Raum verließ, ließ ich meine Bedenken gleich mit dort. Auf dem Stuhl neben Frau J. und Herr W.

Danach fuhr ich zwei Mal in den Urlaub, machte ein Praktikum, zog in eine eigene Wohnung und begann zu studieren. Ich hatte immer etwas zu tun. Heute weiß ich: Wirklich frei sein, das geht nur in den Semesterferien ohne Hausarbeit und in den eigenen vier Wänden. Wann sonst kann man drei Monate ohne schlechtes Gewissen in den Tag reinleben und dafür auch noch BAFöG bekommen? Ich wüsste es nicht.



Text: anja-schauberger - Foto: möpmöp/photocase.com

  • teilen
  • schließen