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Lob des Plakativen

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Alison hat viel Gewicht verloren in den vergangenen Monaten. Sehr viel. Alison sieht klapperig aus, knochig, blutarm, ungesund – als würde es leise knirschen, wenn sich das Mädchen streckt. Trotzdem bekommt ihr Gesicht ein seliges Leuchten, als die Klassenkameradinnen sie halb neidisch, halb verstört auf ihre Figur ansprechen. Alison – das hätte man schon verstanden bevor man sieht, wie sie ein Forum für Kalorienverweigerer besucht – ist magersüchtig. Noch eher im Anfangsstadium. Es reicht aber schon, damit sie eine Fehlgeburt haben wird, nachdem sie vom ersten Sex ihres Lebens (natürlich mit einem rüpeligen Kerl, der sie hinterher ignoriert) schwanger geworden ist.
 
Möglicherweise hätte sie die bigott-überbehütende Mutter Patricia gebraucht, die ihre eigene Tochter (Brandy) dauerüberwacht, sämtliche Facebook- und SMS-Nachrichten mitliest und quasi jeden Schritt mittels Handyortung verfolgt. Womit sie Brandy selbstverständlich in eine heimliche Beziehung treibt und zwar mit Tim. Der war mal Football-Star. Dann depressiv. Jetzt spielt er hauptsächlich, ergo mit schwerer Neigung zur Sucht, das Online-Rollenspiel „Guild Wars“.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Weniger: Manchmal doch mehr!
 
Es gibt noch ein paar weitere Akteure in „#Zeitgeist“, dem aktuellen Film von Regisseur Jason Reitman. Aber keiner von ihnen ist entscheidend subtiler charakterisiert. Stattdessen gibt es viele sehr plakative Bilder für Entfremdung und Nähe im digitalen Zeitalter (Chats, Pornos, Seitensprung-Foren – alles macht irgendwas oder irgendwen irgendwie kaputt und seltener glücklich). Die Kritiker prügeln dafür gerade ziemlich doll auf Reitman ein. Zu Recht doch auch, oder? Es klingt ja tatsächlich schrecklich eindimensional, gell? Und darin ja auch schwer aus der Zeit gefallen, nicht wahr?
 
Ist es aber nicht. Es ist eine Erlösung. Wenigstens für mich. Wenigstens gerade. Ich habe kurz überlegt, ob man Reitmans Film nicht sogar als Zeitenwende ausgeben kann. Als Anfang der Ära der „Post-Differenzierung“ vielleicht. Als das wenigstens zwischenzeitliche Ende der multipel getriebenen Protagonisten. Der Mann hat schließlich mit „Juno“ einen der bewegendsten Charaktere der vergangenen Jahre geschaffen. Wenn so einer die Dimensionen plötzlich wieder reduziert, passiert das doch nicht zufällig. Sollte es sich also tatsächlich zum Trend auswachsen: Ich hab’s euch ja gesagt.
 
Für den Moment muss aber wohl noch meine ganz private Gemütsverfassung genügen. Ich habe den Film vor ein paar Tagen gesehen. Eher zufällig. Keine Kritiken gelesen vorher. Und ich habe festgestellt, dass er mich emotional mehr angefasst hat, als viele der subtil entwickelnden Serien und Filme, die in den vergangenen Monaten in meinem DVD-Player lagen.
 
Weil ich, glaube ich, das Überdifferenzierte etwas satt habe, das so viele Filme und Serien – eigentlich vielleicht sogar die ganze Pop-Kultur – gerade so bestimmt.
 
Und natürlich muss ich das gleich etwas relativieren. Auch ich halte die Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre für die großartigsten der vergangenen hundert. Ich habe jede Sekunde genossen, in der mir nicht klar war, warum ich Vic Mackey aus „The Shield“ immer noch als sympathisch liebevollen Familienvater und loyalen Menschen schätze, obwohl er in der ersten Folge einen Kollegen erschießt. Ich saß quasi-fassungslos im Film „Drive“, überwältigt davon, den namenlosen Hauptdarsteller charakterlich nicht enträtseln zu können. Über die Brillanz von Walter Whites schleichender Verwandlung in „Breaking Bad“ wird niemand ernsthaft diskutieren wollen.
 
Zum ersten Mal zu viel wurde es mir aber bei „Parade’s End“: Historien-Drama, Erster Weltkrieg, Benedict Cumberbatch als stocksteifer Brite mit kruder Frühes-20.-Jahrhundert-Moral. Kennt man nicht, weil es im Abendprogramm von Arte versteckt lief. Aber das Feuilleton flippte milde aus und lobte: „Weder können die Figuren sich in ihrer Ganzheit erkennen, noch können wir uns ein vollständiges Bild von ihnen und der Zeit, in der sie leben, machen.“ Genau!
 
Parade’s End war für mich ein Wendepunkt. Hyperrealismus. Hyperdifferenzierung. Hyperintelligent bestimmt, aber auch kaum noch entspannt anzusehen. Parade’s End ist der Diskurspop der Serienunterhaltung. Bestimmt wichtig. Aber tanzen oder weinen kann man dazu nicht mehr.
 
#Zeitgeist verhält sich dazu, wie die Eels zu The Notwist, oder Dendemann zu Tocotronic: ein Eck einfacher, ein Pfund entspannter. Es kennt und kann die Ambivalenz, die Vielschichtigkeit, die Multikausalität – und entscheidet sich bewusst dagegen. Es setzt auf den schnellen, den brachialen, meinetwegen auch den billigen Effekt. Mir hat das für den Moment mal wieder sehr gut getan. Und wenn ich es recht überlege: Eigentlich möchte ich es doch als Trend ausrufen. Mindestens aber als sehr gewinnbringendes Nebeneinander, das ab jetzt möglich ist.


Text: jakob-biazza - Illustration: sandra-langecker

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