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Nicht lustig?

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Volker Schlöndorff soll einmal nach Afrika gefahren sein, um dort etwas über die Filmwahrnehmung isolierter Ureinwohner herauszufinden. Er zeigte ihnen zuerst einen Film von Charlie Chaplin. Die Ureinwohner lachten. Dann zeigte er Ihnen Aufnahmen von ausgemergelten KZ-Häftlingen. Die Ureinwohner lachten wieder. Sie fanden es lustig, dass Weiße genauso dünn sein können wie sie selbst.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

www.mtvhome.de Auf der MTV-Homepage steht unter der Sendung „Scarred“: „Achtung! Nichts für schwache Nerven“. Das liegt daran, dass in den knapp 30 Minuten - sich jemand den Hodensack aufschlitzt - eine Fleischwunde hat, die mit knapp 100 Stichen genäht wird - jemand mit Schädelbasisbruch ins Krankenhaus gebracht wird - sich jemand den Knöchel so verdreht, dass der Fuß um 135 Grad verdreht vom Bein absteht. Klingt nicht lustig. Ist nicht lustig. Der kurze Lachreflex bleibt einem irgendwo zwischen Magen und Zwerchfell stecken. Sekunden später muss man wegschauen, um den Umschaltreflex zu unterdrücken. Es ist ja auch nicht so, dass man über das Programm von MTV sonst noch viele Worte verlieren müsste – die Selbstdemontage des Senders hat ihren Tiefpunkt schon lange erreicht. Aber „Scarred“ ist eine Sendung, die man sich nur unter größter Selbstdisziplin vollständig ansehen kann. Da drängt sich die Frage auf: Warum aber nimmt ein quotengeiler Sender eine solche Sendung ins Programm? Um der Frage auf den Grund zu gehen, muss man ins Jahr 2001 zurückgehen. Und dann noch etwas weiter. Seit über 20 Jahren gibt es Skatevideos, bei denen am Ende Outtakes mit mehr oder weniger spektakulären Stürzen folgten. Für ambitionierte Skater eine frohe Botschaft: Es klappt nicht immer alles, auch bei Profis nicht. 2001 startete in Deutschland auf MTV die Serie Jackass. Eine Gruppe von zehn Berufsjugendlichen tackerten sich Hodensäcke an den Oberschenkel, schoben sich Matchbox-Autos in den After und ließen sich damit beim Arzt röntgen oder aßen roh die Zutaten eines Omeletts, um diese dann in eine Pfanne zu kotzen und dann das „Omelette“ zu essen. Das hört sich vielleicht nicht lustig an, war aber unglaublich komisch. Vielleicht auch weil die Berufsjugendlichen von Jackass selbst immer lachten. Beim Fürsten der Selbstzerstörung, Steve O., hatte das zwar diabolische Züge, aber auch ein Höllenlachen ist immer noch besser als gar keines. Das nahm einen das schlechte Gewissen und gab die nötige Sicherheit, dass es sich hierbei schon um Humor handelte. Manchmal war einem etwas flau in der Magengegend. Aber wenn sich jemand freiwillig in ein Dixie-Klo einsperrt und das Klo dann von einem Bagger durchschaukeln lässt – Bitteschön, warum nicht?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

www.mtvhome.de Bei „Scarred“ gibt es keine Botschaft und niemand lacht mehr. Zumindest nicht die Protagonisten. Bei „Scarred“ schreien, wimmern und weinen sie. Vorher sieht man sie mit Skateboards, Inlineskates oder BMX-Rädern einen Trick versuchen, zum Beispiel ein 10-Meter langes Geländer herunter sliden. Die Tragödie hat zufällig ein Kumpel des Todeskandidaten aufgenommen. Die Szene wird zerstückelt und immer weiter wiederholt. Am Ende steht der Sturz… Nicht irgendein Sturz, sondern der Fall eines Hinterkopfes aus zehn Meter Höhe und das Aufschlagen auf Asphalt. Zwischen den Clips taucht immer ein Grufti-Neopunk-Moderator auf, der eine Ahnung vermittelt, wie Tokio-Hotel-Bill in zehn Jahren aussehen wird. Der suggeriert zwischen den Zeilen, dass das schon ein bisschen lustig sei, was man da sähe. Glaubt man ihm aber nicht. Eine Reportage über die Folterkeller Idi Amins nimmt einen physisch weniger mit als die verdrehten Gliedmaßen eines amerikanischen Teenagers. Eine der wenigen brauchbaren Humor-Definitionen lieferte der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum. Der sagte: „Humor ist wenn man trotzdem lacht.“ Aber dafür muss man sich erst einmal zwingen, die Sendung ganz anschauen.

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