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So nicht! Der Herbst der Politisierung

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Es wird Herbst in Deutschland. Und dieser Herbst, in dem 20 Jahre deutsche Einheit gefeiert werden, könnte ein besonderer werden. „Wir wurden dafür gewählt zu handeln. Und das tun wir in diesem Herbst voller Entscheidungen“, hatte die Bundeskanzlerin am Mittwoch in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung angekündigt und auf Nachfrage ergänzt: „Jetzt, da diese Regierung bald ein Jahr im Amt ist, werden die Konturen zwischen Regierung und Opposition sichtbarer.“ Zwei Tage nach diesem Interview muss man sagen: Die Kontur ist zu einem tiefen Riss geworden. Die von Angela Merkel geführte Union hat sich in kurzer Zeit zu einem echten Feindbild für viele gerade junge Menschen in diesem Land entwickelt – und das liegt zunächst nicht mal am Inhalt der von Merkel angekündigten Entscheidungen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Nicht allein die Rücknahme des Atomausstiegs, die Hartz-IV-Anpassung oder das unbeirrte Festhalten der baden-württembergischen Landesregierung am umstrittenen Milliardenprojekt Stuttgart 21 erzürnt die Menschen: Es ist die Art, wie diese Entscheidungen getroffen werden, die gerade Bürger politisiert, die sich bisher kaum für Meldungen aus dem Bundestag interessierten. Die Frage, ob Deutschland eine risikoreiche Technologie wie die Kernenergie nutzen will und muss, wird verdrängt von den würdelosen Verhandlungen um den „Atomkonsens“, an dem am Ende nicht mal der Minister für Reaktorsicherheit, stattdessen aber Vertreter der vier großen Stromkonzerne teilnahmen. Die Entscheidung darüber, ob in Stuttgart ein neuer Bahnhof gebaut werden soll, tritt in den Hintergrund wenn man die Bilder vom Donnerstag sieht: Spiegel-Online schreibt von einem Bürgerkrieg im Schlossgarten und der baden-württembergische Innenminister Rech (ja, der mit dem peinlichen Winnenden-Auftritt vor einem Jahr) gibt anschließend den Bürgern, die im Rahmen einer genehmigten Kundgebung ihre Meinung äußerten, die Schuld an der Eskalation. Im ZDF-Interview sagt er: „Wenn Kinder in die vorderste Linie gebracht werden von ihren Müttern, von ihren Vätern, wenn sich Mütter mit den Kindern der Polizei in den Weg stellen, dann müssen sie eben auch mit einfacher körperlicher Gewalt, nämlich weggetragen werden.“

Wenn der für innere Ordnung zuständige Minister den Eindruck erweckt, es herrsche Krieg, geht es nicht mehr um die Frage nach der inhaltlich richtigen Entscheidung. In einer solchen Situation geht es einzig um die Frage, wie Politik in diesem Land durchgesetzt werden soll. Mitte September sind in Berlin 100.000 Menschen gegen die Atompolitik der Regierung auf die Straße gegangen. Kurz darauf hat die Bundeskanzlerin das vorher regionale Projekt Stuttgart 21 zur Chefsache gemacht, ihm die bundespolitische Bedeutung gegeben, aus der heraus jetzt Menschen überall in Deutschland sagen: „Ich will nicht, dass in meinem Land so mit politischem Protest umgegangen wird.“

Mit dem Vorgehen vom Donnerstag hat der verantwortliche Innenminister vermutlich mehr für die Politisierung der Jugend in diesem Land getan, als alle Sonntagsredner, die für Engagement und Interesse werben. Ob dies allerdings in seinem Sinne sein wird, ist fraglich. Denn seit dieser Woche ist für jeden sehr klar erkennbar, wer wo steht in diesem Land. Die Kanzlerin spricht von "Konturen". Wer die Reaktionen gerade junger Menschen auf Twitter oder Facebook beobachtet, stellt aber fest: Hier bekommt eine außerparlamentarische Opposition Konturen.

 

Sollte sich diese Form der Politik in den kommenden Tagen fortsetzen, ist davon auszugehen, dass die derzeit ohnehin nicht gerade populäre schwarz-gelbe Regierung ihr Ansehen vor allem bei jungen Wählerinnen und Wählern verspielt. Und das würde bedeuten: Dieser Herbst in Deutschland wird derjenige, in dem das Ende der Kanzlerschaft Merkel seinen Anfang nahm. Vielleicht wird man dazu in nicht allzu ferner Zukunft die Bilder vom 30. September aus Stuttgart zeigen.

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