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Und alle so Gauck, Yeah!

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Vielleicht müssen wir uns das, was in diesen Tagen in Deutschland vor sich geht, wie ein Festival vorstellen. Auf der Bühne ist  gerade einer umgefallen. Das passiert fast nie, deshalb schauen jetzt alle sehr konzentriert nach vorn. Im Blickfeld steht die Organisatorin, die sichtlich Mühe hat, Ordnung in das öffentliche Chaos zu bringen. Gerade als sie denkt, sie habe den gewohnten, langweiligen und vorhersehbaren Gang der Dinge wieder hergestellt, meldet sich jemand vom Rand der Bühne. Ein kleiner Mann, der bisher nicht sonderlich in Erscheinung getreten war, hat eine einfache, aber doch ungewöhnliche Idee. Er stellt sich an den Rand und ruft sie ins Publikum. Die Idee heißt „Joachim Gauck soll Bundespräsident werden“ und der Mann, der sie ins Publikum gerufen hat, ist Vorsitzender der SPD.

Sigmar Gabriel ist jetzt mächtig stolz, denn seine Partei war gerade erst von der Hauptbühne verbannt worden – wegen mangelndem Zuschauerinteresse.  Doch plötzlich nimmt man ihn wahr und hört ihm zu. In den vorderen Reihen finden die Leute sogar Gefallen an seiner Idee. Sie klatschen und fallen in einen gemeinsamen Gesang ein, eine Art Schlachtruf, der sich jetzt langsam weiter fort trägt durchs ganze Publikum. Erst sangen nur ein paar, dann stimmten der Spiegel, die FAS und die Bild am Sonntag ein und in den nächsten Tagen wird sich entscheiden, ob dieser Gesang wirklich das Geschehen auf dem Festival  beeinflussen wird. Bisher dachte die Organisatorin (die unzweifelhaft Angela Merkel heißt) sie könne die Geräusche aus dem Publikum (das genauso unzweifelhaft das deutsche Internet ist) ignorieren und weitermachen wie geplant. Vermutlich wird sie damit auch Recht behalten.

Aber weil es eben eine Chance gibt, dass sie sich irren könnte, herrscht gerade eine aufgeregte Spannung im Publikum. Denn die Zuschauer bemerken, dass sie nicht die vielen Einzelnen sind, als die sie jeder für sich aufs Festivalgelände gekommen sind und jeder für sich wieder verschwinden. Aus den vielen Individuen formt sich eine Gemeinschaft. Es ist dieser besondere Moment, den Menschen auf einem Festival suchen: das Gemeinschaftsgefühl, das einem für einen Augenblick den Eindruck vermittelt, man sei Teil von etwas Größerem. Und genau dieser Moment treibt gerade Teile des deutschsprachigen Internet an. Es geht darum, aus den vielen Einzelstimmen einen Gesang zu formen: eine gemeinsame Stimme, die das Geschehen auf der Bühne beeinflusst und die Überraschung ausspricht.

Die Überraschung heißt „Joachim Gauck ist Bundespräsident“. Dass sie Realität wird, ist sehr unwahrscheinlich. Das Regierungslager um Organisatorin Angela Merkel hat eine Mehrheit in der Bundesversammlung, die am 30. Juni bestimmt, wer auf der Hauptbühne spielen wird. Und diese Mehrheit wird sich vermutlich für Christian Wulff entscheiden – auch wenn das Publikum was anderes singt. Aber darum geht es gerade nicht. Im Moment ist die so genannte und angebliche Netzgemeinde von dem Gefühl berauscht, etwas in Bewegung zu setzen. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Gauck-Ecke beim Pottblog. Screenshot 

Das Pottblog bietet die  eine  Gauck-Ecke, via Twitter wird ein Mosaik in Gauck-Form gebildet und auf den Webseiten Wir für Gauck und Mein Präsident bündeln Gauck-Unterstützer genauso ihre Sympathien wie in der Joachim Gauck als Bundespräsident genannten Facebook-Gruppe. Das ist alles rührig, aber noch eher am Anfang. Das Besondere an diesem Engagement liegt in dem Festival-Fernseh-Effekt. Der entsteht, wenn eine Kamera am Schwenkarm über die Zuschauer fliegt und diese Bilder anschließend auf einer Leinwand gezeigt werden. So kann jeder, der in der Menge steht, sehen, dass er gerade in der Menge steht. Das hat keinen Nachrichtenwert, aber hohe emotionale Bedeutung. Denn es zeigt: Wir sind viele.

 

In der Aufgabe der fliegenden Festival-Kamera gefallen sich aktuell die so genannten klassischen Medien: Am Montag verbreitete dpa eine Meldung, die taz und  DerWesten  legten nach, das Branchenblatt W&V befragte einen Social Media-Experten und viele weitere werden folgen und damit den Effekt nähren, der schon von früheren Netzbewegungen bekannt ist. Als im Bundestagswahlkampf beispielsweise ein Merkel-Plakat beschriftet wurde, reichte die Und alle so: Yeah-Aufregung bis in die Tagesthemen. Es ist durchaus möglich, dass das Und alle so Gauck, Yeah-Moment eine ähnliche Kraft erlangen wird.

 

Den Augenblick, an dem eine solche Bewegung von Einzeläußerung zu einem Gemeinschafts-Projekt wird, hat der US-Autor Malcom Gladwell mal als Tipping Point bezeichnet. Man kann sich das wie einen sehr guten Auftritt bei einem Festival vorstellen, wenn plötzlich sogar die am Rand stehenden Skeptiker anfangen zu tanzen. Von da an läuft die Begeisterung quasi von allein.  Es gibt dann niemanden mehr, der noch über Inhalte sprechen will. Keine Stimme mehr, die nach den Beweggründen fragt, die der Mann am Bühnenrand hatte als er seinen Vorschlag ausrief oder nach dem Antrieb des Kandidaten, sich von Rot-Grün nominieren zu lassen. Es geht dann vor allem um den Zauber, der von dem Wir-Gefühl der Vielen ausgeht. Gemeinsam gegen den vorgegebenen Weg, gemeinsam gegen den gewöhnlichen Ablauf zu kämpfen, ist dann Antrieb genug. Vielleicht bringt die Bewegung dann doch einige Wahlfrauen und Wahlmänner der Bundesversammlung ins Grübeln. Vielleicht wächst der Druck von Meinungsumfragen und Stimmungsbildern und lässt Christian Wulff plötzlich als Präsident ohne Volk darstehen.

 

Unterstützt wird diese Hoffnung von der in Deutschland besonders ausgeprägten Unterscheidung zwischen Netz- und Offline-Kultur. Und so dient auch die Auseinandersetzung zwischen jenen, die das Web als Heilsbringer verstehen und denen, die das Internet ausdrucken wollen, als Antrieb für die Gauck-Begeisterung. Würde das Unmögliche gelingen, man hätte damit nicht nur für eine Überraschung gesorgt, sondern quasi nebenbei bewiesen, welche Macht das Internet hat.

 

Noch hat Joachim Gauck den Tipping Point nicht erreicht. Dass er als Kandidat der gerade noch niederliegenden SPD aber überhaupt in dessen Nähe kommt, zeigt aber einmal mehr, dass Politik, zumal in digitalen Zeiten, ein von Stimmungen getriebenes Geschäft ist – und nicht nur deshalb stimmt der Vergleich mit den Sommerfestivals

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