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Warum unser Leben nichts mehr mit dem unserer Eltern zu tun hat

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Lange Zeit haben uns unsere Eltern ein Leben vorgelebt, das wir versucht haben nachzuleben oder das wir versuchen sollten nachzuleben. Es ging dabei vornehmlich um fünf Punkte, die wir nach dem Verständnis unserer Eltern in unsere Leben einpflegen sollten: 1. sie wünschten sich von uns eine lineare Berufsgeschichte (á la Geselle -> Meister -> Chef) 2. sie wünschten sich bisweilen die Übernahme der von ihnen oder ihren Ahnen aufgebauten beruflichen Infrastrukturen (Betrieb, Kanzlei, Hof, Praxis, Pendlerpauschale) 3. sie wünschten sich eine Fortführung von Familientraditionen (Urlaube im Süden Europas, deutsche Automarke, Polnische mit Kartoffelsalat an Weihnachten, Monogamie) 4. sie wünschten sich für uns zeigenswerte Partner (plus Hochzeit, plus Wohneigentum, plus Kind) 5. sie wünschten sich Absicherung (Anlagen, Rente, Rücklagen, Sparbuch, Versicherungen jedweder Natur, Plastikhülle für die Bankkarte) Diese Leitlinien für ein ordentliches Leben kommen aus einem bestimmten Gedankenraum im Kopf unserer Eltern. In diesem Raum geht es um Sicherheit und um Einfluss auf die Lebensgestaltung des Nachwuchses. Vermutlich ist es keinem Elternteil vorzuwerfen, wenn er sich redlich müht, uns in Sicherheit zu bringen (finanziell und, wenn das denn ginge, auch bei der Partnerwahl). Und vermutlich ist es auch nicht besonders verwunderlich, dass man, wenn man 18 Jahre lang aus einem ver-rotzten Balg einen lebenstüchtigen Menschen gemacht hat, nicht mit dem Tag der PKW-Führerscheinreife jeglichen Einfluss verlieren möchte. Viele Eltern spüren eine Art Urheberrecht auf ihre Kinder und freuen sich am Ende wie Oliver Pocher nach einem guten Gag, wenn die klugen Kinder den eigenen, ja eben so klugen Lebensweg nachgehen, der gleichbedeutend ist mit einer linearen Berufsgeschichte, mit Monogamie, mit Plastikhülle. Lange Zeit hat dieses Prinzip ganz gut funktioniert, nach dem die nächste Generation organisch aus der vorhergehenden kam, so ähnlich wie bei den russischen Matroschka-Steckpuppen. Freilich, dabei kamen nie wirklich Eltern-Klone heraus und natürlich gab sich jede neue Generation einen eigenen Anstrich und erlebte ihre je eigene Form von Abnabelungsprozess. Streit und Schreie und manchmal auch Schläge inbegriffen. Weil nur die Wenigsten sich von den Eltern sagen lassen, wo der Hammer hängt und wie er außerdem zu gebrauchen ist. Wir streiten ja auch noch mit unseren Eltern, unbestritten. Es fühlt sich aber so an, als könnten wir den Ort des Streits verlassen, wenn wir das nur wollen. Als könnten wir sagen: Du, VaterMutter, unser Streit wird nie fruchten, weil die Basis, von der aus wir diesen Streit führen nicht die Gleiche ist!

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Es scheint, als seien wir, eine ganze Generation, irgendwann nach Ende der Kindheit neben die Elterngeneration getreten. Als hätten wir uns auf einen Weg gemacht, zu dem die Eltern aus verschiedenen Gründen keinen Zugang haben. Unbewusst haben wir uns dem Einfluss unserer Eltern entzogen und haben so die stillste und effizienteste Emanzipationsbewegung vorangetrieben, die es je gab: Unsere Eltern haben keinen Einfluss mehr auf uns. So autonom war noch keine Generation vorher. Gab es das schon einmal, dass Eltern in das Leben ihrer Kinder wie durch ein Schaufenster blickten? Verständnislos, staunend, bewundernd, irritiert. Hilflos. Unsere Lebensläufe stauchen und strecken und winden sich viel mehr als zum Beispiel noch vor 15 Jahren. Nicht allein wegen der befristeten Verträge, vielleicht vor allem wegen unserer Neugier und mehr noch wegen unserer Chancen, dieser Neugier auf Neues auch nachgehen zu können. So kommt es, dass wir viel später als unsere Eltern den Punkt erreichen, an dem wir, naja, ankommen. Vor lauter Gelegenheiten sind wir vor allem damit beschäftigt, unser Leben zu planen. Wir planen den nächsten Schritt, wir planen Ausgangspositionen, wir planen, was passiert, wenn es mit den Plänen nichts wird (manchmal vergessen wir dabei auch das Leben selbst). So kommt es auch, dass Projekte wie „Ehe“ oder „Kinderkriegen“ oder „Familie“ in unseren Köpfen wie auf Paradekissen gestickt daherkommen. Wir haben diese Modelle nie verworfen, ach was, ist ja romantisch und unsere Eltern haben es doch eigentlich auch geschafft. Aber unser Umgang mit diesen Projekten, unsere Vorstellung von ihnen, von ihrer Ausprägung und Wirkung hat sich geändert. Ob zum Positiven oder zum Negativen, das weiß noch niemand. Wir müssen erstmal selbst akzeptieren, dass wir, wenn wir von EheKinderFamilie reden gar nicht mehr das elterliche Modell meinen. Dass wir es gar nicht meinen können, weil doch die meisten Ehen viel früher enden als damals, weil wir wechselnde Beziehungen unterhalten und auch künftig unterhalten werden. Unter Umständen müssen wir gestehen, dass wir im Leben nicht nach Mrs und Mr Right suchen, sondern nach vielleicht drei Mrs und Mr Rights. Der daraus folgende Patchwork-Zustand (Kind hier, Ex da, Neu-Freund dort) wird künftig nicht mehr für stern-Titelgeschichten taugen. Weil es die Regel ist und nicht Ausnahme. In der Zwischenzeit werden immer weniger Betriebe und Höfe und Praxen in diesem Land ihre Nachfolger aus den Familien rekrutieren können, weil wir die Verantwortung für Traditionen und geburtsbedingte Lebenssituationen ablegen. Herkömmliche Modelle des Zusammenlebens werden zu Auslaufmodellen, weil sie stete Anwesenheit verlangen. Mehr und mehr Sozialverbände, Sportvereine und Jugendgruppen klagen deshalb über Nachwuchsmangel, weil wir uns nicht mehr in der Lage sehen, über lange Zeit an einem Ort nur einer Sache nachzugehen. Unsere Freundeskreise funktionieren nicht mehr in Vereinen, sie funktionieren vernetzt, nach dem Prinzip der kurzfristigen Vereinbarung und Verabredung. Das Internet ist vielleicht die sichtbarste Scheidemarke, will man den Unterschied zwischen Eltern und Kindern klarmachen. Wir gehen nach dem Schulabschluss mit einem Laptop auf Weltreise, um so unser Leben in Bewegung zu halten, um Kontakt zu halten. Wir leben in einer parallelen Welt, ist ja auch nicht schlimm, aber so gehen die Gesprächsgrundlagen mit unseren Eltern verloren. Wir berichten aus unserem Alltag wie aus einer fremden Welt. Wir müssen unseren Eltern unser Leben, unsere Arbeit und unsere Art sich zu befreunden und zu entfreunden von Grund auf erklären. Unseren Eltern bleibt die Aufgabe des wohlmeinenden Ratgebers. Wirklichen Einfluss nehmen sie nicht mehr. Im Gegenteil. Sie werden im besten Falle ein solider Teil unseres Freundeskreises. Wir sind gerade dabei, eine neue Lebensform zu etablieren. Ein schönes Gefühl, irgendwie. Es macht aber auch Angst - so ganz ohne Eltern.

Text: peter-wagner - Illustration: Lucille Mietling

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