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Wenn kleine Geschwister cooler werden als man selbst

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Meine große Schwester traf diese Erkenntnis in der damals hippsten Disko der Stadt. Ich war 16, als ich (Seitenscheitel-Freunde in Lederjacken) auf einem Konzert auf meine große Schwester (Kurzhaarfreunde, Skaterschuhe) traf – und sie als coolste Person der Familie ablöste. Seitdem arbeitet meine große Schwester in einer Bank, trägt immer Stöckelschuhe und geht mit Rechtsanwälten in die Oper. Ich habe mich einige Jahre als legitime coole Nachfolge ihrer Tradition betrachtet, habe mir männliche Freunde, die Make-up tragen, gesucht, und mir das Rauchen angewöhnt. Das Prädikat „coolste Person der Familie“ stand nur mir zu. Bis zu einem gewissen Punkt läuft die kindliche Sozialisation so ab: Das jüngere Geschwister macht alles nach, was das ältere tut. Deshalb habe ich in der vierten Klasse Jungle gehört, als meine große Schwester mit blaugefärbten Haaren zur Loveparade fahren wollte. Aus demselben Grund trennte meine kleine Schwester die Innennähte ihrer Jeans auf – das trug man nämlich in meiner Clique so. Und man selbst schwankte zwischen Hass und Mitleid für das Nachmacher-Nesthäkchen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Natürlich dauert die Nachmach-Phase nicht ewig. Irgendwann während der Pubertät grenzen sich die allermeisten jüngeren Schwestern und Brüder von ihren Eltern ab. Pferdeschwester wird Rockabilly und Fußballbruder wird Hip-Hopper. In der Regel ist dies jene Zeit, in der man als kleines Geschwister versucht, seinen älteren Geschwistern aus dem Weg zu gehen, seinen Lebenswandel in Nebel hüllt und seine Freunde strikt von den Familienmitgliedern fernhält. Perfide: Die älteren Geschwister interessieren sich immer weniger für das jüngere Geschwister. Sie halten es a. noch immer für eine schlechte Kopie ihrer selbst, oder: b. für jemanden, den sie nie sehen und über den sie deshalb nie nachdenken Und deshalb können sie die Entwicklung, die geschieht, nicht wahrnehmen. Das Nesthäkchen wird langsam erwachsen; leider auch: cool und interessant. Diese Erkenntnis trifft das ältere Geschwister vollkommen unvorbereitet. Deshalb ist der Moment, in dem sich die Geschwister unter den neuen Bedingungen, also unter der verschobenen Coolness-Konstellation, treffen, so erschütternd. Ich wusste damals, dass ich das coolste Familienmitglied war. Aber ich war es leider nicht auf Dauer. Vor ein paar Tagen habe ich mit meiner kleinen Schwester telefoniert. Ich war nicht darauf vorbereitet, in der Disziplin Geschwister-Quartett zu verlieren. Meine kleine Schwester hat in folgenden Kategorien gesiegt: 1. Wohnort Meine kleine Schwester wohnt in Berlin-Kreuzberg in einer Wohngemeinschaft. In einem schicken Altbau. Ich wohne in München neben „Walter’s Wurstladen“. Unter meinem Bett liegt ein Teppich aus Schurwolle. 2. Freunde Meine kleine Schwester hat Freunde, die in Bands singen und auf Vernissagen ausstellen. Meine Freunde bringen zu unseren lustigen Kochabenden gerne selbstgebackene Plätzchen mit. Außerdem trinken sie prinzipiell keinen Wein, dessen Flasche mit einem Schraubverschluss geschlossen wird. 3. Hobbies Meine kleine Schwester spielt in einem Orchester und geht jeden Abend weg. Sie steht auf den Gästelisten von vier Clubs. Obwohl sie immer nur drei Stunden schläft, gibt sie allen, die sie kennt, Nachhilfe. Ich koche ganz gern und sehe fern. 4. Berufliches Meine kleine Schwester hängt mit Kunstprofessoren herum und wird wohl bald auf eine Akademie gehen, und auf einer Werkschau ihr erstes Selbstporträt in Acryl für sehr viel Geld verkaufen. Ich gehe kellnern, in einem Omacafé. Wie soll es weitergehen? Ist meine Schwester jetzt bis an ihr Lebensende die aufregendste Person der Welt? Wird sie Start-up-Gründerin oder Rockstar? Oder: Könnten meine Eltern bittebitte noch eine Schwester zeugen? Damit sie mal weiß wie das ist: erst nachgemacht und dann übertroffen zu werden.

Text: dana-brueller - Illustration: lucille-mietling

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