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Wie modern sind wir noch?

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Es war einmal eine Zeit, in der schlugen die Menschen mit Vorschlaghämmern und mit Begeisterung die Bretterrückwand von Omas altmodischer Küchenanrichte ein. Sie schoben den Holzhaufen mitsamt den alten Holzstühlen und der Recamiere auf die Straße, wo schon die Nachbarn ihr Mobiliar aufgehäuft hatten. All das gab es jetzt moderner. Und man wollte nicht der letzte sein, der das kapierte. Die Amerikaner hatten angefangen, Plastik zu Stühlen, Tischen und Bechern zu gießen und jeder konnte ein Stück von diesem knallbunten Fortschritt bei sich zu Hause haben. Vati und Mutti sparten auf einen Farbfernseher, dann auf eine Küchenmaschine, dann auf noch eine Küchenmaschine und noch eine Küchenmaschine. Man dachte viel an Amphibienfahrzeuge in diesen Jahren, fuhr unsinnig oft auf den Mond und hatte die Zeitschrift „Hobby“ abonniert, die alle zwei Wochen mit Bauplänen und vielen Fotos die Verbesserung der Menschheit erklärte. Die Zeit war sehr modern und alle machten mit, man schaute nach vorne, weil die Vergangenheit sehr dunkel war.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Modern... Die Kinder der Vorschlaghammerbesitzer standen ihren Eltern in nichts nach. Ihr Style war anders, aber nicht minder modern. Sie fuhren in kantigen Autos, die aussahen wie in dem Film „Zurück in die Zukunft“, sie trugen Klamotten in Neonfarben, denn das hatte man vorher noch nicht gesehen. Sie tauschten die orangen Kugelwecker der 70er Jahre gegen solche mit roten LED-Ziffern aus, besuchten Computerkurse und lernten Programmiersprachen, um sich mit den Maschinen der Zukunft verständigen zu können. Man lachte über die organischen Formen der 70er und ließ die Nierentische der 50er mit dem Plastikservice der 60er im Dachboden einer modernen Reihenhaushälfte verstauben. Die Zeit war modern und alle machten mit, man schaute nach vorne, weil die Vergangenheit so altmodisch war. Kenn' ich schon, kauf' ich wieder So, und jetzt kommen wir. Eine Generation, für die sich die Firmen beeilen, Produkte bereitzustellen, die an früher erinnern und für die Zeitschriften als Gimmick „Prilblumen“-Aufkleber in Millionenauflagen beilegen. Eine Generation, die einem Auto wie dem New Mini vom BMW Absatzzahlen jenseits der 300 000 Stück Grenze beschert. Das bedeutet nichts anders als: Über 300 000 Menschen kaufen ein sehr teures Auto, das damit lockt, dass seine Form in den 60er-Jahren mal modern war. Modern ist dabei aber nur eine Erkenntnis für die Firmen - dass nämliche die Kunden heute etwas kaufen möchten, das sie an früher erinnert. Die Ingenieure von Fiat standen in den letzten Jahren ein wenig unter Druck, der Firma geht es nicht so gut. Sie mussten einen erfolgreichen Kleinwagen entwickeln, ein modernes Auto, das dem Zeitgeist der Menschen entspricht. In die Scheinwerfer fuhr dann Mitte dieses Jahres ein Auto, dass dem Fiat 500 der Baujahre 1957 bis 1975 aufs Augenfälligste gleicht. Die Presse jubelte, die Menschen auf den Straßen freuten sich, weil sie schon den alten Fiat so putzig fanden. Nichts Neues, keine Gefahr. Natürlich steckt unter den Motorhauben neue Technik, natürlich sind die Retro-Turnschuhe die wir kaufen, heute in Bangladesh zusammengenäht und nicht wie ihre alten Abbilder im Fränkischen, natürlich benutzen wir den "Classic-Phone"-Klingelton leicht ironisch, das Problem ist nur: Wir verlernen dabei völlig, was eigentlich modern ist. Wir erkennen es nicht mehr, weil unsere ästhetischen Werkzeuge darauf geeicht sind, alles Nostalgische und Alte in seiner Wertigkeit über das Neue einzuordnen. Faustregel: Was alt ist oder alt wirkt, ist schön. Das ist bequem und ziemlich feige, denn man kann dabei nicht viel falsch machen. Die Flohmärkte sind leer gekauft, weil es keine einzige Küchenanrichte einer vergangenen Epoche gibt, die nicht angesagt ist. Und weil der Bedarf so riesig ist, verkaufte IKEA in seiner letzten Kollektion eben millionenweise organische geformte Lampen und kultige Cocktail-Sessel, die aussahen wie vom Flohmarkt. Die Zeit ist modern, aber keiner macht mit, man schaut zurück, weil die Vergangenheit viel beruhigender und sinnstiftender ist, als die unentschlossene Gegenwart. Retro-Reflex Natürlich gibt es in der Rücksucht Unterschiede. Die einen schauen sich im Fernsehen die Kult-Shows mit alten Schlagern an, die anderen treiben Florian Illies Bücher, diese pseudo-ironische Kataloge eines goldenen Zeitalters, auf die Bestsellerliste. Und die, die sich für die Klügsten halten, stehen in Clubs mit 70er-Deko, lesen etwas das "Neon" heißt und hören junge Bands, deren PR-Firmen schon gar nicht mehr versuchen, sie als neu zu verkaufen, sondern nur noch die entsprechenden Soundalikes der Musikgeschichte aufzählen. Klar gibt es in all diesen Sparten auch wirklich modernes, aber die Masse ist retro.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

...und retro. Es sind nicht nur die Konsumenten, die langsam in ihrem Vintage-Dasein verdummen, auch die Produzenten, siehe Fiat, wissen nicht weiter. Die Architekten bauen seit zwanzig Jahren Häuser, die aussehen wie in den 30er Jahren, aus Stahl nämlich und Glas und Sichtbeton. Moderne Elektrogeräte, iPods etwa, die mit dem Suffix „Design“ verkauft werden, sehen bestenfalls so aus wie das, was vor 25 Jahren in Raumschiff-Filmen als Ausstattung diente. Neue Fernsehshows sind Einzueins-Adaptionen alter Erfolgsformate und neue Fernsehserien spielen in den 70er Jahren, undsoweiter. An dieser Verliebtheit ins Vergangene, an dem reflexartigen Daumenhoch für Hollandrad und Holzski, ist ja erstmal nichts so Schreckliches. Vieles war früher vielleicht wirklich schöner. Und vielleicht befinden wir uns in einer Übergangsphase, in der virtuelles Design seine erste Blütezeit erlebt und realer Style einfach an Bedeutung verliert. Aber es fehlt nun mal von einer äußeren Rücksucht nicht viel zu einer inneren. Eine Haltung, die allem Neuen grundsätzlich kritisch und ablehnend gegenübersteht. Die heute vielleicht auf die Straße geht, wenn ein „Kult“-Format im Radio abgeschaltet wird und morgen dann nur noch: Weil früher alles besser war. Teste selber: Woran du merkst, dass du in der Retro-Hölle gefangen bist

Text: max-scharnigg - Fotos: ap

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