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Der Kapuzenpulli ist wieder zurück

Illustration: Federico Delfrati

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Soll noch einmal jemand sagen, Mode sei oberflächliches Zeug. Mode hat einen therapeutischen Effekt. Wie man sich bettet, so liegt man, wie man sich kleidet, so lebt man. Karl Lagerfeld behauptet: Wer in Jogginghose aus dem Haus geht, hat die Kontrolle über sein Leben verloren und würde sicher Ähnliches auch über ihr Pendant, den Kapuzenpulli sagen. Ich halte dagegen: Ohne Kapuzenpulli hätte ich niemals Abitur gemacht. In meinen dunkelsten Stunden half mir dieses Kleidungsstück, um 7 Uhr 30 den Weg aus dem Bett in die Schule anzutreten.

Der Grund dafür? Kein Kleidungsstück nimmt einen mehr in den Arm, als der Hoodie. Keines gibt tröstlicher eine Antwort auf die Frage: „Oh Gott, was soll ich bloß anziehen? Es ist zu früh, zu kalt, zu grau, zu Realität.“ Der Hoodie ist die Jogginghose für obenrum. So weit geschnitten, dass er sowohl das Binge-Eating von letzter Nacht kommentarlos aufnimmt als auch das im Winter von Vitamin-D-Mangel schwer gebeutelte Gehirn. Sicher und unantastbar hüllt er es in eine große Kapuze, die einem nicht nur das Wetter, sondern auch schlecht gelaunte Blicke anderer Zufrühaufsteher im öffentlichen Nahverkehr vom Leib hält. Und nicht nur dort. Auch im Klassenzimmer beziehungsweise Großraumbüro ist der Kapuzenpulli so etwas wie der Raumtrenner to go, die bestmögliche Cocooning-Maßnahme, die außerhalb des heimischen Wohnzimmers zu kriegen ist. Der Kapuzenpulli ist damit eigentlich auch der materialisierte Beweis dafür, dass man seine Comfort Zone gar nicht verlassen muss, um Großes zu schaffen. Man muss sie einfach nur mitnehmen dahin, wo es etwas zu Großes zu schaffen gibt.

Leider hat der Hoodie in Sachen modisches Ansehen eine unrühmliche Zeit hinter sich. Die Jahre zwischen, sagen wir: 2003 und 2015 verbrachte er nicht wie derzeit in fancy Pariser und New Yorker Boutiquen, den Kollektionen von Vetements, Burberry, Alexander Wang, Puma x Rihanna oder auf Streetstyle-Fotos von Chiara Ferragni. Sondern allenfalls in den Sport- oder Skate-Abteilungen irgendwelcher Fußgängerzonen-Kaufhäuser.

In Oklahoma wurde sogar ein Verbot der Kapuze in der Öffentlichkeit diskutiert

Mit einem Kapuzenpulli irgendwo aufzuschlagen war bis vor kurzem in etwa wie mit einem Shirt der Zigarettenmarke „NIL“ in den Club zu gehen: over. Hängengeblieben Ende der 1990er, Anfang der Nullerjahre, als man gern Shirts mit Retro-Aufdrucken trug und darüber eine alte Adidas-Trainingsjacke. Wer hauptberuflich nicht gerade in der IT-Branche, unter Skatern oder im Gangstermilieu tätig war, hatte es demnach schwer, auf offizielleren Anlässen ernsthaft mit einem Hoodie bekleidet Beifall zu ernten. In den USA sowieso, obwohl er dort in den 1930ern von dem Label Champion als vor Wind und Wetter schützende Arbeitskleidung entworfen worden war und danach vor allem zum favorisierten Kleidungsstück von Gangstern, Sprayern, Hip-Hop-Stars, Demonstranten und ganz normalen Streetkids wurde. Nachdem 2012 ein Polizist den schwarzen Teenager Trayvon Martin erschoss, behaupteten einige, es habe an Martins Hoodie gelegen. Anfang 2015 wurde in Oklahoma sogar ein Verbot der Kapuze in der Öffentlichkeit diskutiert. Spätestens seit diesem Vorfall wurde der Hoodie zum Symbol sozialer Ungerechtigkeit: Es folgten in ganz USA „hoodie marches“ gegen ethnisches Profiling. 

Seit vergangenem Jahr ist der Hoodie endgültig zurück in der Fashionwelt und damit im Mainstream angelangt. Das kommt einem im eisigen Winter 2016/2017 sehr gelegen. Bedenkenlos kann man jetzt nämlich morgens aus dem Bett direkt in einen Hoodie reinfallen, die Kapuze aufziehen und all die Zeit, die man vorher mit dem An- und Ausziehen zu kratziger, zu enger, zu dünner, zu kurzer Klamotten – oder am schlimmsten: statisch aufgeladener Strickwaren – verbracht hat, nutzen, um einfach nur mit dem Kaffeebecher am Fenster zu stehen und sich unverschämt gut angezogen zu fühlen. Vielleicht ist das Comeback des Hoodies damit nicht mehr als ein Zugeständnis an die Tatsache, dass ein echter Beruf einen auch nicht davor schützt, sich innerlich wie ein verwirrter Teenie zu fühlen, der sich nach nichts Anderem sehnt, als einfach noch ein paar Stunden liegen zu bleiben.

 

Vielleicht ist er aber doch noch ein bisschen mehr.

 

Denn wenn man dann fertig ist mit Kaffee und Rausglotzen und die Luft unter der Kapuze so richtig schön warm geworden ist, muss man sich dieser Tage durchaus überlegen, ob man statt in die Arbeit einfach lieber auf eine Demo geht. Zum Beispiel gegen, naja, man weiß sich ja derzeit kaum zu entscheiden: Trump? AfD? Reichsbürger? Klimakatastrophe? Gender-Paygap? Internet? Massenhysterie? Die Menschheit an sich? Und in welchem Kleidungsstück ginge das besser, als in einem Hoodie? Vielleicht ist also auch das ein Grund, warum der Hoodie wiederkommt. Weil er gebraucht wird. Harte Zeiten brauchen keine Anzüge. Harte Zeiten brauchen Kapuzen.

 

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