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Billie Eilish ist der Anti-Fake in Person

Billie gruselt gerne – nicht nur sich selbst, sondern auch andere.
Foto: Chris Delmas/AFP

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2019 ist das Jahr der Billie Eilish. Die 17-jährige Dark-Pop-Prinzessin aus Los Angeles hat mit ihrem Debütalbum „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“, das gerade erschienen ist, eine der innovativsten und cleversten Platten seit langem gemacht, ihre Live-Shows sind ein mitreißend-heftiges Fest der Intensität. Für das britische Online-Musikmagazin „nme.com“ ist Eilish „the most talked-about teen on the planet“ und Dave Grohl, dessen Töchter „besessen“ von ihr seien, fühlt sich gar an den Hype um seine frühere Band Nirvana erinnert. Wer also ist diese junge Frau, und was macht ihre Songs so einzigartig?

Beim Namen fängt es an. Billie Eilish Pirate Baird O'Connell. Billies Eltern, die beide unter anderem als Schauspieler arbeiten, haben ihre Tochter auch sonst auf ein eher unkonventionelles Leben vorbereitet: Sowohl Billie als auch ihr vier Jahre älterer Bruder Finneas sind komplett zuhause unterrichtet worden, in den USA darf man das schließlich. „Home-School hat echt gerockt“, plaudert Billie Eilish beim Interview mit jetzt in London fröhlich heraus. „Es gab nur ein Jahr, in dem ich gern zur Schule gegangen wäre, ungefähr mit 12, und das nur deshalb, weil ich auch mal eine Uniform tragen, einen Spind haben und die Mittagspause mit den anderen verbringen wollte. Ich sehnte mich mal kurz nach dieser Form von Gemeinschaft.“ Die Phase ging vorüber. „Ich habe immer schon gerne das Gegenteil von dem gemacht, was ich machen sollte. Das gilt auch für den Unterricht. Den ganzen Quatsch lernen, den die anderen lernen müssen, das wollte ich nie.“

Billie Eilish wollte: Musik machen. Mit acht schon singt sie im Chor, sie liebt das damals sehr erfolgreiche Skater-Girl Avril Lavigne, aber auch Drake und die Beatles, und mit 13 schreibt sie, zusammen mit Finneas, ihren ersten Song „Ocean Eyes“ – eine reduzierte Liebeshymne mit ruhigem Beat und reichlich Herzschmerz. Die Geschwister stellen den Song ins Netz. Billie spielt erste Konzerte in kleinen Clubs rund um Los Angeles, sie lernt früh, eine Bühne für sich einzunehmen. Der Bruder ist weiterhin fester Bestandteil ihrer Band und auch auf der kommenden Tournee mit dabei. Und bleiben ansonsten gelassen.

Billie ist das Idol vieler Teenager, die misstrauisch gegenüber der glitzernden Instagram-Oberfläche sind

Während „Ocean Eyes“ ab 2015 auf Soundcloud für Furore sorgt, schreiben die beiden weiter. Bis heute arbeiten sie stets zusammen an Billies Musik. Bis vor kurzem lebten sie noch Tür an Tür im Elternhaus im Hipsterviertel Highland Park. „Wir können in den Kopf des anderen kriechen. Wir denken ganz oft dasselbe, und wir sind uns längst nicht immer einig, es gibt viele Auseinandersetzungen. Aber wir vertrauen uns zu hundert Prozent.“

Kürzlich ist der Bruder, der unter dem Projektnamen FINNEAS selbst Musik veröffentlicht und auch schauspielert, mit seiner Freundin in ein kleines Häuschen gezogen, freilich ganz in der Nähe. „Er ist ja auch schon 21, also ein erwachsener Mann“, sagt Billie grinsend.

Die Fans der Billie Eilish sind größtenteils deutlich jünger, nicht selten auch jünger als sie selbst. Billie ist das Idol vieler Teenager, die misstrauisch sind gegenüber dem Grellen, dem Bunten, also jener glitzernden Oberfläche, die sie ansonsten von Popstars (und oft genug auch von ihren eigenen Freunden) bei Instagram präsentiert bekommen. Sie ist quasi der Anti-Fake in Person. Billie Eilish, deren Songs bis dato mehr als fünf Milliarden Mal gestreamt wurden, ist schließlich genauso verwirrt und unsicher wie ihre – überwiegend weiblichen – Fans, sie geht offen mit ihrem Tourette-Syndrom um, und sie singt darüber, wie das Leben nun einmal ist. Nämlich oft toll und manchmal beschissen.

„Gruselig zu wirken, finde ich geil“

Ihre Ängste und depressive Veranlagung spricht sie offen an, nicht von ungefähr ist sie auf den Soundtracks zu beiden Staffeln der Selbstmordserie „Tote Mädchen lügen nicht“ vertreten. „Ich liebe alles, was düster ist“, sagt sie. „Gruselig zu wirken, finde ich geil. Ein paar meiner Videos sind echt unheimlich. Die Leute kriegen teilweise richtig Angst vor mir – und auch um mich.“ Aber bitte, man müsse sich um sie nicht sorgen, sie ziehe durchaus Grenzen zwischen dem Mädchen und der Künstlerin Billie Eilish. „Nur, wenn ich in einem Video unheimlich oder fertig aussehe, muss ich das in Wirklichkeit noch lange nicht sein. Mir geht es super, Leute. Entspannt euch, es ist nur Kunst.“

Eilish liebt Horrorfilme. „Mein allerliebster ist 'The Babadook'. Wenn ich den anschaue, drehe ich durch vor Angst, aber der Adrenalinkick dabei ist so geil, dass ich nicht weggucken kann.“ Auf dem Cover zu „When We All Fall Asleep, Where Do We Go“ sieht sie denn auch wirklich furchteinflößend aus. Mit pupillenlosen Augen wirkt sie wild und wirr, wie sie auf ihrem Bett hockt und den Betrachter jeden Moment anzuspringen scheint. Auch im Video zu ihrem Song „Bury A Friend“ macht sie Angst – als sprichwörtliches Monster unterm Bett, dass zudem noch mit Injektionsnadeln traktiert wird. Das Dunkle, ja die Nacht als solche, fasziniert die 17-Jährige außerordentlich, deshalb auch der Albumtitel. „Ich habe extreme Einschlafstörungen“, bekennt sie. Seit zwei Monaten plage sie zudem Nacht für Nacht derselbe Alptraum. „Der ist so abartig und intim, dass ich nicht sagen will, worum es geht.“

„When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“ ist ein Album für Menschen, denen das Albumformat immer fremder wird. Eigentlich. Die keine Welt mehr ohne Streaming und Smartphone kennen, die mit Playlisten großgeworden sind. Sprich: Genres und Musikstile spielen keine Rolle. Harte Bass-Pop-Nummern wie „Bury A Friend“, introvertierte Balladen wie „When The Party’s Over“ oder auch zugänglicher Synthipop („My Strange Addiction“) ergeben ein Gesamtbild, bei dem zwei Sachen entscheidend sind. „Mich muss jeder Song packen und schütteln. Und jeder Song soll anders klingen.“ Das sei, so Billie, ja nun einmal der Sinn eines Albums. „Wenn alles gleich klingt, kann man es gleich lassen.“

Und auch das gehört zur Faszination der Billie Eilish: Die größte Angst von allen verschweigt sie keineswegs. Das langsame, sensible „I Love You“ ist eine wunderschöne Ballade, sehr ernst, sehr aufrichtig. Und diese Worte auszusprechen, gar vor Publikum zu singen, nun ja, „es ist schon echt heftig, so einen Satz zu sagen und mich vor den Leuten so dermaßen zu entblößen.“

„In jemanden verliebt zu sein, ist etwas, das die komplette Kontrolle über dich übernimmt“

Was daran so schwer ist? „Die Liebe, Mann! Die Liebe macht mir so viel Angst. Egal, ob die andere Person dich zurückliebt oder nicht – beides ist voll schlimm und macht dich fertig. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll: In jemanden verliebt zu sein, ist etwas, das die komplette Kontrolle über dich übernimmt. Du hast keinen eigenen Willen mehr, alles ist dieser Liebe untergeordnet. Alle deine Gedanken und Entscheidungen werden vom Verliebtsein diktiert. Es ist so einfach, die Liebe zu leugnen und sich einzureden, dass man sich bloß etwas vormacht. Und so schwer, sich seine Liebe einzugestehen.“ Dennoch: „Ich liebe die Liebe. Die Liebe kann dir so viel ruinieren, zugleich ist sie magisch, und man will, dass es für immer ist.“

Im Dezember erst wird diese so reif und abgebrüht wirkende junge Frau 18 Jahre alt. „Seit meiner Geburt freue ich mich darauf, endlich volljährig zu werden. Aber ich merke auch, dass meine Jugend mir in dieser seltsamen Musikindustrie eine Art Bonus ermöglicht. Man lässt mich machen und vieles ausprobieren.“ Dass Billie Eilish, wie praktisch alle bemerken, die mit ihr zu tun haben, reifer und älter wirkt, als sie ist? Hört sie seit Jahren und tut es mit einem Achselzucken ab. „Es ist keine besondere Leistung, jung zu sein. Und für mich selbst ist das nicht sehr relevant. Ich habe ja nicht gedacht ‚Wow, ich bin erst 13 und veröffentliche meine erste Single’. Sondern ich selbst war nie älter als heute. Aber in den Augen der anderen ist es glaube ich ganz cool.“

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