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Erinnern heißt auch, an die Gegenwart zu denken

Transparente mit der Aufschrift '8. Mai 1945 Die Befreiung feiern 8. Mai 2020' und 'Für ein friedliches und solidarisches Europa' hängen am Balkon des Opernhauses der Staatstheater Stuttgart.
Foto: dpa/Marijan Murat

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Ich erinnere mich noch gut an meinen Geschichtsunterricht in der Oberstufe. An meine Mitschülerinnen und Mitschüler, die mal mehr oder weniger leise maulten, dass man seit drei Jahren das immergleiche Thema durchnähme: die Nazis und den Holocaust. Mittlerweile, so sagten sie, hätte man doch alles begriffen. Gelernt, wie schlimm die NS-Zeit war und verstanden, dass das nie wieder passieren darf. 

Ich fand das Gemaule damals schon unangebracht. Denn: War das alles wirklich zu begreifen? Nicht nur, was damals passiert ist, was die Nazis getan, wie viele Menschen sie ermordet hatten – sondern auch, was das alles für die Gegenwart bedeutet? Denn wann kann man schon behaupten: „So, jetzt haben wir aber erstmal genug erinnert und gelernt.“ Ich denke, dieser Zeitpunkt wird nie kommen.

„Wir spüren die Auswirkungen der Vergangenheit noch heute“

Zum einen kann man ein so grausames Kapitel wie den Holocaust nicht einfach schließen. Zum anderen gibt es immer noch viele Menschen in Deutschland, die rechtes Gedankengut in sich tragen. Wie kann unsere Gesellschaft ausgelernt haben, jetzt, wo sich rechtsextreme Gewalt wieder häuft? Jetzt, da Alltagsrassismus – in der Uni, auf dem Wohnungsmarkt, im Supermarkt, am Fußballplatz – immer noch täglich vorkommt? Erinnerungskultur ist keine Prüfung, die man erst einmal bestehen muss und dann kann man das Gelernte wieder vergessen. Es ist ein Prozess, der auch unseren Blick für das Jetzt und die Zukunft schärfen muss. 

Zu Zeiten der Pandemie ist es noch einmal besonders wichtig, uns daran zu erinnern. Denn seit Wochen dominiert das Coronavirus die Medien und die Gedankenwelt der Menschen. Doch heute, endlich, am 8. Mai 2020, schafft es auch ein anderes Thema wieder in die Öffentlichkeit: Es wird an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren erinnert. Bei all den Corona-News müssen wir uns einmal mehr dazu bringen, das Thema nicht untergehen zu lassen. Denn zwar endete damals das Nazi-Regime, doch Antisemitismus und Rassismus taten es nie. Menschen ohne deutschen Nachnamen haben schlechtere Chancen auf einen Job oder eine Wohnung. Täglich werden Menschen in Deutschland aus rassistischen Motiven beleidigt und angegriffen.

Rechte Hetze und Gewalt waren nie weg. Ganz im Gegenteil, es wird immer mehr. Für das Jahr 2019 meldete der Kriminalpolizeiliche Meldedienst für Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) vorläufig 22 337 Delikte mit rechtsextremen Hintergrund in Deutschland. 22 337! Davon waren 1000 Fälle versuchte oder vollzogene Gewalt. Der Anschlag im Oktober 2019 auf eine Synagoge in Halle gehört dazu. Und auch dieses Jahr ging es weiter: Erst vor wenigen Wochen tötete ein rechter Terrorist neun Menschen in Hanau aus rassistischen Motiven. Es war natürlich schon längst überfällig, doch langsam schien die Politik rechtsextremen Terror als große Gefahr ernst zu nehmen. Rechter Terror wurde von Politiker*innen endlich als solcher bezeichnet und (außer von der AfD) nicht mit linker Gewalt relativiert. Nach den vielen Opfern rechter Mörder, die wir in den vergangen Jahrzehnten zu betrauern haben, ist das aber natürlich immer noch ein sehr kleiner Schritt. 

Menschen werden in Deutschland oft nicht als individuelle Personen wahrgenommen, sondern in Schubladen sortiert und auf einzelne ihnen selbst fremde Merkmale redudiziert, die oft als negativ empfunden werden: „Der da ist Flüchtling“ oder „Sie trägt Kopftuch“. Diese Sätze reichen vielen, um Hass auf die beschriebenen Personen zu entwickeln. Unter anderem trägt Racial-Profiling zum Problem bei. Genauso wenn Innenminister Horst Seehofer nach Amtsantritt erstmal verkündet, der Islam gehöre nicht zu Deutschland

Doch was ist jetzt? In den vergangenen Wochen richteten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Corona-Krise. Es sollte unnötig sein, zu sagen, dass Rassismus und rechter Terror in Deutschland weiterhin bestehen. Seit April verüben mutmaßlich rechte Extremisten immer wieder Anschläge auf türkische Läden im bayerischen Waldkraiburg. Dabei gab es bereits viele Verletzte.

Wenn wir dieser Tage zurück an das Ende des Zweiten Weltkrieges denken, sollte uns eines klar sein: Erinnern ist eine Aufforderung für das Jetzt. Es ist eine Ermahnung für das, was noch zu tun bleibt. Und im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus ist noch viel zu tun. Denn solange der Alltagsrassismus wächst und weiter Anschläge verübt werden, klingen Erinnerungsreden von Politiker*innen schnell nach leeren Worthülsen. Aus dem Erinnern muss ein Tun werden.

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