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„Gefängnisbesuche sollen keine traumatischen Erlebnisse sein“

Foto: Kristal Bush

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In keinem Land der Welt gibt es so viele Inhaftierte wie in den USA: Mehr als zwei Millionen Menschen sitzen dort im Gefängnis. Kristal Bush aus Philadelphia hat schon als Kind miterlebt, wie ihr Vater und ihr Bruder inhaftiert wurden.  Oft mussten sie und ihre Mutter weite Strecken zurücklegen, um die beiden zu besuchen. Emotional, aber auch finanziell ist diese Situation nicht leicht zu stemmen. Deshalb startete die mittlerweile 28-jährige Kristal vor sechs Jahren ihr Unternehmen „Bridging the Gap“, das Familien dabei hilft, ihre inhaftierten Verwandten zu besuchen. Mit drei Vans steuern sie und ihre Fahrer mehrmals die Woche 16 Gefängnisse im Bundesstaat Pennsylvania an. Diese Trips können bis zu zwölf Stunden dauern. Vor allem Frauen haben über diesen Service auch eine Gemeinschaft gefunden, die ihnen Halt gibt.

Lisa Riordan Seville, freie Journalistin, und Zara Katz, Produzentin für Editorials und Dokumentationen, begleiten Kristal seit 2015 auf ihren Touren. Ihr multimediales Projekt „Women on the Outside“ erzählt mit Portraits – fotografiert von Zora J. Murff – die Geschichten einiger Frauen, die den Van-Service nutzen. Außerdem sind die Touren als Film zu sehen. „Women on the Outside“ ist im Rahmen des Münchner Fotodok-Festivals noch bis 26. November im der Galerie Lothringer13 zu sehen.

Wir haben mit Kristal und Zara über das Projekt gesprochen – und darüber, wie man damit umgeht, wenn ein Angehöriger im Gefängnis sitzt.

jetzt: Kristal, wie muss ich mir deinen Van-Service vorstellen? Wie ist das, wenn du Angehörige zu einem Gefängnis fährst?

Kristal Bush: Es geht dabei um die Community-Atmosphäre. Wenn die Mitfahrerinnen auf der Fahrt sehr ruhig sind, mache ich Scherze oder spiele einen guten Song – oder ich frage sie, welche Musik sie gerne hören würden. Das hebt sofort die Stimmung. Denn sogar als Fahrerin bin ich oft versunken in Gedanken wie: „Ich kann nicht glauben, was mein Angehöriger getan hat“. Diese Gefängnisbesuche sollen keine traumatischen Erlebnisse für die Angehörigen sein, sondern eher eine Art Mädelstrip. Wir machen uns einfach eine gute Zeit, feiern, lachen. Außerdem lenke ich sie so davon ab, dass die Gefängnisse oft Stunden entfernt sind.

Ist die Stimmung auf den Rückfahrten anders als bei der Hinfahrt?

Kristal: Ja. Auf der Hinfahrt sind viele aufgeregt und voller Vorfreude. Beim Verabschieden wird ihnen dann erst klar, dass sie nicht wissen, wann sie das nächste Mal herkommen können. Viele können gar nicht glauben, dass sie ihre Angehörigen im Gefängnis zurücklassen müssen. Sie sind dann meisten sehr müde und in Gedanken versunken. Dann spiele ich lieber Lovesongs.

Zara Katz: In unserem Video dazu erzählen wir die Erfahrung dieses Trips von Anfang bis Ende, den ganzen Prozess, ohne Erzählerstimme: Kristal holt die Frauen noch im Dunkeln ab. Alle sind müde und noch in ihrem Pyjamas. Langsam wachen sie auf, singen, machen sich fertig, tragen Make-up auf. Jedes Mal, wenn du im Film eine Frau am Handy siehst, telefoniert sie ziemlich sicher mit ihrem Angehörigen im Gefängnis.

Ist es schwer, Kontakt zu den Inhaftierten zu halten und sie zu unterstützen?

Kristal: Manche von uns sind in das Ganze einfach hineingeboren. Für mich war es von klein auf normal, dass Angehörige im Gefängnis sind. In meinem Umfeld ist das irgendwie die Norm. Vor seiner langen Gefängnisstrafe wegen versuchten Mordes war mein Bruder immer wieder mal inhaftiert. Sogar als Jugendlicher. Ich dachte also, es ist normal, vor den Cops davonzulaufen.

 

„In 25 Jahren Knast hat keiner meinen Vater gefragt, was eigentlich seine Ziele im Leben sind“

 

Kann man aus diesem Teufelskreis nicht ausbrechen?

Kristal: Eigentlich habe ich „Bridging the Gap“ ja auch in der Hoffnung gestartet, dass die Unterstützung durch die Angehörigen außerhalb des Gefängnisses den Inhaftierten dabei hilft, aus ihrem Verbrechen zu lernen. Aber ich sehe so oft, wie die Männer heimkommen und später wieder zurück ins Gefängnis gehen. Die Programme im Gefängnis bereiten die Menschen nicht wirklich gut darauf vor, ins normale Leben zurückzukehren. Es liegt dann also an den Angehörigen: Für mich ist es zum Beispiel sehr stressig, meinem Vater Dinge beizubringen, die ihm das Gefängnis in 25 Jahren hätte beibringen können – oder er sich selbst! Er musste nicht einmal sein High-School-Abschluss im Gefängnis nachmachen.

Zara: Eine andere Frau, die wir auch in unserem Projekt zeigen, ist mittlerweile mit dem zweiten oder dritten Mann zusammen, der im Gefängnis ist. Ihre Familie macht sich darüber lustig: „Wenn du sie datest, kommst du auch ins Gefängnis.“ Ich habe sie gefragt, ob sie denkt, dass sie andere Optionen hätte. Sie sagte: „Es ist eben, wie es ist. Er wollte für uns sorgen und sicher gehen, dass wir genug Geld haben. Also hat er etwas Dummes gemacht, aber in dem Moment dachte er nur, dass er uns damit helfen würde.“ Es ist einfach eine sehr komplexe Situation.

 

Was kann man machen, um den Angehörigen zu helfen, die aus dem Gefängnis kommen?

Kristal: Man muss die Menschen als Familie zur Verantwortung ziehen. Ich mache das mit meinem Vater und meinem Bruder auch so. Ich kann ihnen nicht wirklich helfen, aber ich kann sie in die Pflicht nehmen: „Du willst einen Job? Dann geh und such dir einen.“ Man sollte ihnen schon während der Haft bestimmte Fragen stellen, um sie auf zuhause vorzubereiten. In 25 Jahren Knast hat keiner meinen Vater gefragt, was eigentlich seine Ziele im Leben sind. Als ich ihn vor Kurzem fragte, sagte er: „Ich habe keine Ziele. Mein Ziel ist es, dir zu helfen.“ In dem Moment dachte ich, dass er eigentlich gar nicht bereits fürs normale Leben ist.

 

Inwiefern?

Kristal: Er wusste nicht einmal, wie man mit einem Computer umgeht, wie man Online-Bewerbungen ausfüllt. Manchmal denke ich, dass die Beziehung zu meinem Vater einfacher war, als er noch inhaftiert war. Jetzt muss ich ihm all diese grundlegenden Dinge beibringen.

 

„Manche der Frauen müssen zwei Jobs machen, um über die Runden zu kommen“

 

Die Angehörigen im Gefängnis zu besuchen ist für viele auch eine große finanzielle Belastung.

Kristal: Das war der Grund, aus dem ich den Van-Service gestartet habe. Es half uns finanziell, als mein Bruder länger ins Gefängnis kam. Außerdem habe ich ihn bezahlt, wenn er innerhalb des Gefängnisses Werbung für mein Unternehmen machte. Ich konnte ihm dadurch also mehr Geld senden. Und es hilft mir auch dabei, mich um seinen Sohn zu kümmern. Andere Frauen haben zum Beispiel ein eigenes Kind, dessen Vater im Knast sitzt. Also müssen sie zwei Jobs machen, um über die Runden zu kommen. Viele bekommen zwar staatliche Unterstützungen, aber das schicken sie zum Teil den inhaftierten Angehörigen.

 

Wie geht man als Angehörige mit den Verbrechen der Inhaftierten um? Verurteilt oder verteidigt man sie?

Kristal: Ich denke, es ist mehr das Verteidigen. Sogar ich verteidige meinen Bruder. Er hat ein Kind. Er fing an, in einem Kinderheim zu arbeiten. Aber dort bekam er nicht genug Geld. Also fing er an, mit Drogen zu dealen, um schnelles Geld zu machen. Ähnlich war es auch bei meinem Ex-Freund: Er fing an, verschreibungspflichtige Schmerzmittel zu verticken. Aber hätte das ganze System diese Möglichkeit nicht geschaffen, hätte er es auch nicht getan. Hätte der Arzt diese Rezepte nicht unterschrieben, hätte er die Pillen ja nicht weiterverkaufen können.

Zara: Wir haben da keine Lösung. Wir haben so oft mit Frauen gesprochen, die jemanden durch einen Mord verloren haben und auf der anderen Seite Angehörige haben, die ein Gewaltverbrechen begangen haben. Wir haben sie gefragt, was Gerechtigkeit für sie ist. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie das Verbrechen selbst verteidigen. Sie sehen es natürlich als das, was es ist. Aber sie sagen: „Die Haftstrafen sind zu lang, die Gefängnisse zu weit weg.“ Das ist etwas ganz Konkretes. Es geht nicht darum, die Taten ihrer Lieben zu leugnen. Aber es geht darum, zu hinterfragen, was das für ein System ist, in dem man einfach nicht aus dieser Spirale herauskommt.

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