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„Ich wähle immer, was mein Freund wählt“

Foto: stop-sells / photocase, Bearbeitung: Daniela Rudolf

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Ich weiß nicht mehr, was ich vor vier Jahren gewählt habe

„In den vergangenen Wochen habe ich oft überlegt, wen ich wählen soll. Ist ja wichtig, weiß man ja, deshalb habe ich mich auch ziemlich ausführlich informiert und kam mir sehr staatsbürgerlich und gut vor. Dann aber gab es einen Punkt, an dem ich merkte, dass ich mir da wahrscheinlich was vorheuchle.

Es war der Moment, in dem ich merkte, dass ich gar nicht mehr wusste, was ich vor vier Jahren gewählt habe. War es die SPD? Waren es die Grünen? Oder Moment mal, vor vier Jahren wehte ja noch ein bisschen Piraten-Hype durchs Land. Hatte ich vielleicht sogar die gewählt?

Ich kam nicht mehr drauf. Ich bekam auch nicht mehr zusammen, wer vor vier Jahren überhaupt die Spitzenkandidaten der Grünen waren oder was die bestimmenden Themen des Wahlkampfs waren. Das einzige, was hängengeblieben ist, war Steinbrücks Stinkefinger. Was für mich heißt: So staatsbürgerlich wichtig scheint mir das mit dem Wählen wohl doch nicht zu sein. Sonst müsste ich mich doch noch dran erinnern, oder?

Ein mündiger Wähler, wie ich ihn mir vorstelle, trifft eine Entscheidung, weil er die Pläne einer Partei gut findet und unterstützen will. Bei der nächsten Wahl könnte er dann schauen, welche Versprechen gehalten wurden, und ob die Partei seiner Wahl seinen Erwartungen in der vergangenen Legislaturperiode entsprach. Ich kann das alles grade nicht. Ich finde das ziemlich peinlich. Immerhin ist diese Erkenntnis vielleicht der erste Schritt in die richtige Richtung, damit mir das bei dieser Wahl nicht wieder passiert.“

Ich wähle immer, was mein Freund wählt

„Manche Dinge werde ich nie verstehen. Wie das mit den Steuern funktioniert, zum Beispiel. Oder eben die Sache mit der Politik. Zu viele Zahlen, zu viele zu berücksichtigende Faktoren, zu komplex. Für die Steuern habe ich eine vertrauenserweckende Dame mittleren Alters. Und für die Politik, da habe ich meinen Freund. Da das in meinem Ü-18-Leben nicht immer derselbe war, hat sich auch mein Wahlverhalten über die Jahre, nun ja, entwickelt. 

Angefangen habe ich mit Verweigern. Die einzige für meinen Irokesen-Freund in Frage kommende Partei war die mit dem sympathischen Slogan „Arbeit ist scheiße!“. Nur leider trat die APPD in der Bundestagswahl nicht an. Außerdem wussten wir eh voll Bescheid: No future at all. Mein nächster Freund war langhaariger Lokalpolitiker bei den Grünen. Atomausstieg, Gleichberechtigung, Gras – das alles leuchtete mir ein. Später wählte ich links, weil mein Neuer, in Gedanken gnadenloser Umverteiler, soziale Gerechtigkeit forderte.

Irgendwann kam der Mann, mit dem ich bereits zum wiederholten Mal an einem Sonntag irgendeine Turnhalle aufsuchen soll. Dieser Mann verweigert mir sein Wahlgeheimnis. Er meint, ich solle selbst entscheiden. Weil er es doch auch nicht besser wisse. Zu viele Zahlen, zu viele zu berücksichtigende Faktoren, zu komplex. Zuerst dachte ich: Was für ein Schuft. Und dann: Endlich mal eine Beziehung auf Augenhöhe.“

 

Ich habe aus Faulheit und Verpeiltheit nicht gewählt

 

„Eigentlich sollte diese Geschichte nie jemand erfahren. Weil ich mich bis heute dafür schäme. Es waren die Wochen vor der Bundestagswahl 2013. Die Situation war ähnlich wie heute - Merkel schien auf dem sicheren Kurs zur nächsten Kanzlerschaft. Und dem SPD-Kandidaten Steinbrück räumte eigentlich niemand ernsthafte Chancen ein. Es war die Wahl mit dem Stinkefinger-Bild.

 

Jedenfalls verkündeten mehr und mehr Leute in meinem Bekanntenkreis, sie würden nicht wählen. Sogar Moritz Bleibtreu sagte in einem Interview mit einem seltsamen Stolz, er wähle seit Jahren nicht mehr. Also verbrachte ich die letzten Wochen vor der Wahl damit, ständig irgendjemandem mit viel Leidenschaft und noch ein bisschen mehr Selbstgerechtigkeit zu erklären, warum das Nichtwählen die genau dümmste aller Reaktionen auf den elend langweiligen Wahlkampf sei. Fast fühlte ich mich so, als würde ich selbst eine Kampagne fahren, mit dem Slogan: Leute, seid nicht bescheuert, sondern geht wählen!

 

Und dann kam der Freitag vor der Wahl und mir fiel auf, dass ich zum Wählen ja einen Wahlbescheid bräuchte. Der war aber nie angekommen. Warum? Weil ich seit zwei Jahren zu faul gewesen war, mich beim Einwohnermeldeamt in meiner neuen WG umzumelden. Mein Wahlbescheid lag also vermutlich im Briefkasten meiner aufgelösten Ex-WG oder im Müll. Und ich saß da. Freitagnachmittags. Vier Wochen Besserwisserei hinter mir – und ein Wahlsonntag vor mir, an dem ich nicht wählen können würde.

 

Nur eines ist noch dümmer, als aus Frust über langweilige Kandidaten nicht zu wählen: aus Faulheit und Verpeiltheit nicht zu wählen. Ich habe dann in den vergangenen vier Jahren auffallend wenig über Merkels Regierung geschimpft.“

 

 

Ich habe bei der Erststimme die Optik entscheiden lassen

 

„Klar, ich habe mich über die Parteien informiert, die für mich in Frage kommen und dieses Jahr sogar freiwillig ihre Programme gelesen. Dass man sich auch mit den Direktkandidaten aus dem eigenen Wahlkreis auseinandersetzen sollte, habe ich aber mal wieder verdrängt. Jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit haben mich die potentiellen Abgeordneten von ihren Plakaten nett angelächelt – und ich habe sie eiskalt ignoriert

 

Bis zum Tag meiner Briefwahl-Deadline. Da wollte ich dann doch mehr über die Menschen wissen, die auf meinem Stimmzettel standen und auf ein Kreuz warteten. Zum Glück gibt es den Direktkandidaten-Vergleich von abgeordnetenwatch.de. Nachdem ich dort meine Einschätzungen zu den einzelnen Themen eingegeben hatte, war allerdings schnell klar, dass sich meine Top 3 unter den Abgeordneten in den Punkten, die mir wichtig waren, kaum unterschieden. Viel Zeit blieb jetzt nicht mehr, der rosa Umschlag musste zur Post.

 

Also schaute ich mir die drei Kandidaten genauer an – ihre Porträt-Fotos besser gesagt – und erinnerte mich an die Wahlplakate, auf denen sie mehr oder weniger überzeugend lächelten. Schließlich entschied ich mich für die Person, die mir optisch am sympathischsten war. Ich kam mir dabei sehr mies vor. Eine Wahlentscheidung vom Aussehen abhängig machen – das ist nichts, worauf man stolz sein kann. Ich schwor mir, mich nächstes Mal auch über die Direktkandidaten rechtzeitig zu informieren.“

 

 

Ich habe meine Mama meine Unterschrift fälschen lassen und wähle jetzt doch nicht

 

„In einer offiziellen Pressemitteilung rät der Bundeswahlleiter am Montag, die Briefwahlunterlagen umgehend, also noch am selben Tag, spätestens aber am Dienstag, bei der Post aufzugeben. Also, aufgeben im Sinne von abgeben. Diese Nachricht versetzt mich in mittelschwere Panik, denn meine Wahlunterlagen sind immer noch nicht da – glaube ich zumindest.

 

Denn das Problem ist: Ich wohne gerade nur für eine sehr kurze Zeit in München und bin daher auf Briefwahl angewiesen. Und auf meine Mama, die die Briefwahl für mich beantragt, indem sie meine Unterschrift fälscht. Alles andere war uns zu umständlich. Sowohl, dass ich die vielen hundert Kilometer nach Hause fahre, als auch das Hin-und Herschicken mit der Post. Strenggenommen macht sich meine Mama mir zuliebe der Urkundenfälschung strafbar. Damit ich meiner Bürgerpflicht nachgehen kann. Also, eigentlich für einen guten Zweck, oder?“

 

Ich wähle Parteien aus Mitleid

 

„Schon als Kind habe ich Stofftiere aus Mitleid gekauft. Nur ein Auge? Verknotetes Fell? Loch im Bauch? All diese Behinderungen lösten bei mir die Angst aus, kein anderes Kind könnte das Tier kaufen und es würde dann auf ewig im Einkaufszentrum traurig vor sich hin stauben. Also habe ich mich erbarmt –  und es mit besonders viel Liebe überschüttet.

 

Leider fälle ich ich auch im Erwachsenenleben Entscheidungen aus Mitleid. Ich bin immer für den Fußballverein, der eh verliert, ja, manchmal auch für den HSV. Ich nehme das Stück Kuchen, das besonders derangiert aussieht. Und leider wähle ich auch gerne die Partei, die eh keine Chance hat. Bedeutete in den vergangenen Jahren: SPD oder Grün.

 

Natürlich weiß ich, dass Mitleid kein gutes Argument für gar nichts ist. Man führt ja auch keine Beziehungen aus Mitleid. Aber insbesondere die Sozis und die Grünen mit ihren hochidealistischen, gutgemeinten Ideen für eine gerechtere Welt, brechen mir einfach alle vier Jahre das Herz. Weil sie in der Umsetzung dann halt doch eher an einäugige Stofftiere als an professionell gefertigte Steiff-Teddybären erinnern. Was für Liebhaber, aber nicht für die breite Masse.

 

Tatsächlich habe ich nur einmal kurz darüber nachgedacht, Angela Merkel zu wählen. Als sie die Flüchtlinge reingelassen hat und alle auf ihr rumgehackt und gesagt haben: böser Fehler. Da hatte ich auch kurz Mitleid. Aber jetzt ist sie wieder so auf der Siegerspur – die kann ich einfach nicht wählen.“

 

*Die anonymen Geständnisse stammen – und zwar nicht in dieser Reihenfolge –  von Berit Dießelkämper, Christian Helten, Katja Lewina, Charlotte Haunhorst, Leonie Sanke und Jan Stremmel

 

 

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