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Die etwas anderen „Erstwähler“

Illustration: Lucia Götz

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Wer nach dem 22. September 2013 18 Jahre alt geworden ist, für den steht dieses Jahr die erste Bundestagswahl seines Lebens an. Aber auch andere Menschen sind dieses Jahr „Erstwähler“: Sie wurden eingebürgert und dürfen zum ersten Mal ihre Stimme abgeben; sie wählen zum ersten Mal etwas anderes als sonst; oder sie wählen zum ersten Mal als Mitglied einer Partei – oder sogar sich selbst. Sieben Wählerinnen und Wähler erzählen von ihrem „ersten Mal“ bei dieser Wahl.

Yevgeniy Breyger, 28, darf nach seiner Einbürgerung zum ersten Mal in Deutschland wählen

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Das ist Yevgeniy.

Illustration: Lucia Götz

„Ich weiß schon, wen ich wählen werde. Ich freue mich drauf und bin auch ziemlich aufgeregt. Diesen ganzen rituellen Akt des Wählens stelle ich mir spannend vor. Ich habe ja noch gar keine Vorstellung davon, wie das aussehen wird, mit den Wahlkabinen und den Wahlurnen. Das Ganze fühlt sich für mich ein bisschen an wie eine Einschulung.

Ich bin 1999 als jüdischer Kontingentflüchtling aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Nach neun Jahren durfte ich rechtlich einen Antrag auf Einbürgerung stellen. Ich habe es aber erst 2012 gemacht, als ich gemerkt habe, dass ich mit dem ukrainischen Pass zahlreiche Nachteile in Deutschland habe – nicht nur, wenn es um Visa und Reisen ging, sondern zum Beispiel auch, weil es schwer ist, mit einem nicht-deutschen Pass eine Wohnung zu bekommen.

Lange hat es mich nicht gestört, dass ich in Deutschland nicht wählen konnte. Die meiste Zeit war ich ja sowieso zu jung. Als ich dann anfing zu studieren, habe ich mich zum ersten Mal so richtig damit auseinandergesetzt. Es hat sich seltsam angefühlt, sich theoretisch bei verschiedenen parteinahen Stiftungen bewerben oder einer Jugendorganisation einer Partei beitreten zu können, aber nicht wählen zu dürfen. Die meiste Zeit waren aber andere Sachen wichtiger oder belastender als kein Wahlrecht zu haben. Während des Einbürgerungsprozesses gab es zum Beispiel drei Monate, in denen ich staatenlos war, weil ich die ukrainische Staatsbürgerschaft schon abgegeben hatte und die deutsche noch nicht genehmigt war.“

Sebastian Roloff, 34, Anwalt, wählt sich (voraussichtlich) zum ersten Mal selbst 

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Das ist Sebastian.

Illustration: Lucia Götz

„Ich wohne im Münchner Süden und bin dort Bundestagskandidat für die SPD. Die Wahl ist natürlich geheim – aber sagen wir mal so: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ich mich zum ersten Mal selbst wählen werde. Immerhin bin ich seit vielen Jahren politisch aktiv und unterstütze mich in meinem politischen Engagement.

Es wird sicher ein bisschen lustig sein, bei der kommenden Wahl meinen eigenen Namen auf dem Wahlzettel zu lesen. Komischer ist für mich allerdings, dass jetzt in meinem Viertel Plakate mit meinem Gesicht drauf hängen. Zum Glück sind solche Fotos ja immer recht vorteilhaft, darum kann ich gut damit leben. Aber es ist trotzdem etwas Besonderes, wenn du beim Bäcker plötzlich erkannt wirst und jemand sagt: ‚Bist du nicht der vom Plakat?’“

Tobias Heyel, 38, Fotograf und Autor, wird zum ersten Mal Die Linke wählen

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Das ist Tobi.

Illustration: Lucia Götz

„Es war schon länger so, dass mir die Bundestagsreden von Gysi und Wagenknecht aus der Seele gesprochen haben, aber ich hatte immer etwas Angst vor dem Populismus der Linken. Und mir ist auch jetzt noch bewusst, dass bei denen auch nicht alles gut läuft. Aber sie fordern zum Beispiel den Schuldenschnitt für Griechenland und setzen sich für bezahlbaren Wohnraum ein. Das finde ich beides sehr wichtig und richtig. 

Früher habe ich mal rot-grün gewählt – ich bin also mitverantwortlich für die Agenda 2010 und habe deswegen immer noch ein schlechtes Gewissen. Dann bin ich zu grün-grün übergegangen. Aber durch Winfried Kretschmanns Realpolitik sind grün und schwarz in meiner Heimatstadt Stuttgart eine Farbe geworden.

Mein Freundeskreis ist politisch sehr interessiert und engagiert. Ich bin Mitglied bei der kommunalen Wählervereinigung ‚Die Stadtisten’, wir engagieren uns zum Beispiel für weniger wohlhabende Mitbürger, für Geflüchtete und dafür, dass auf den alten Gleisflächen ab etwa 2025 auch bezahlbarer Wohn- und Kulturraum entsteht. Eigentlich haben alle aus meinem Freundeskreis immer die Grünen gewählt, aber durch die schwarz-grüne Regierung in Baden-Württemberg den Glauben an die Partei verloren. Darum bin ich nicht der Einzige, der stattdessen zum ersten Mal mit Erst- und Zweitstimme links wählen wird.“

Annabelle Bijelic, 44, Mitarbeiterin des Akademischen Auslandsamts einer Fachhochschule, darf nach ihrer Einbürgerung zum ersten Mal den Bundestag wählen

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Das ist Annabelle.

Illustration: Lucia Götz

„Ich werde auf keinen Fall Briefwahl machen, sondern selbst hingehen. Dass ich jetzt Deutsche bin und abstimmen kann, macht mich stolz und bedeutet mir wirklich sehr viel. Ich weiß auch schon genau, was ich wählen werde. Ich habe Politikwissenschaften studiert und mich dadurch viel mit dem deutschen Wahlsystem auseinandergesetzt, das mit seinen zwei Stimmen ja schon etwas besonderes ist. Auch ansonsten bin ich politisch sehr interessiert und informiere mich viel. An meiner Wahlentscheidung ist darum auch nicht zu rütteln. 

Ich lebe seit 19 Jahren in Deutschland. Als französische EU-Bürgerin durfte ich bei Kommunalwahlen abstimmen, aber bei Land- und Bundestagswahlen nicht. Das hat mich immer gestört. Trotzdem habe ich die Einbürgerung lange vor mir hergeschoben – immerhin kosten der Antrag und der Einbürgerungstest zusammen fast 400 Euro. Aber seit Oktober 2016 habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft.

Ich würde mir wünschen, dass es für ausländische Mitbürger einfacher wäre, politisch mit zu entscheiden. Ich denke, viele machen es nicht, weil sie für das Wahlrecht die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen und ihren anderen Pass abgeben müssen. Ich kann als EU-Bürgerin beide Pässe haben – hätte ich das nicht gekonnt, hätte ich mich wahrscheinlich nicht einbürgern lassen. Dabei wäre ich durchaus bereit gewesen, auf mein französisches Nationalwahlrecht zu verzichten, um stattdessen dort zur Wahl zu gehen, wo ich lebe: in Deutschland. Wie bei der Europawahl. Da durfte ich mich jedes Mal entscheiden, ob ich für Frankreich oder für Deutschland wähle.“

Jan Neersö, 37, Geschäftsführer von drei Seniorenheimen, wählt zum ersten Mal als Mitglied einer Partei

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Das ist Jan.

Illustration: Lucia Götz

„Als Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, hat mich das sehr schockiert. Ich habe schon vorher häufig gedacht, dass ich mich eigentlich politisch mehr engagieren sollte, aber dieses Ergebnis hat mich dann auch wirklich danach handeln lassen. Also bin ich noch am selben Tag bei den Grünen eingetreten. Dafür habe ich mich nach dem Ausschlussprinzip entschieden: Ich bin eher linksliberal eingestellt, CDU und FDP schieden also sowieso aus, und SPD und Linke haben mir zu naive Vorstellungen von Wirtschaft. Bisher hat sich bestätigt, dass es die richtige Entscheidung war: Ich bin in der Wirtschafts-AG meines Kreisverbands in Leipzig aktiv und mit den meisten Leuten da ziemlich auf einer Wellenlänge.

Ich denke, dass für mich vor allem die Kommunalwahlen in zwei Jahren spannender sein werden als sonst, weil ich auf dieser Ebene jetzt selbst aktiv bin. Aber auch die Bundestagswahl wird sich als Parteimitglied vielleicht ein bisschen anders anfühlen als früher. Nicht, weil ich überzeugter wählen würde als vorher, sondern weil mir der Prozess bewusster ist und ich weiß, was alles dahintersteckt: Seit ich sehe, was die Menschen im Politikbetrieb, die aus Interesse an der Sache mitarbeiten, alles stemmen, habe ich wirklich Hochachtung vor Politikern. Und ich würde es auch jedem anderen empfehlen, in die Politik zu gehen. Immerhin werden da Entscheidungen getroffen, die für alle gelten. Darum sollten da auch die mitmachen, die es betrifft.“

Raimund Pousset, 70, wählt zum ersten Mal die CDU

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Das ist Raimund.

Illustration: Lucia Götz

„Seit gut 50 Jahren wähle ich Rot oder Grün. Ich zähle mich zu den Alt-Achtundsechzigern, lebte während der Studentenbewegung in Berlin, war politisch sehr aktiv und war 1980 sogar bei der Gründung der Grünen in Karlsruhe dabei. 

Dieses Jahr werde ich zum ersten Mal in meinem Leben CDU wählen, was mir sehr schwer fällt. Ich habe monatelang hin- und her überlegt. Die CDU ist seit vielen Jahrzehnten mein politischer Gegner, die Partei von Helmut Kohl, die ich von Herzen abgelehnt habe. Aber sie ist eben auch die Partei, die Angela Merkel an ihrer Spitze hat. Sie hat mehrere linke Herzensangelegenheiten von innen heraus durchgesetzt, allen voran die Atomkraft-Regelung gekippt. Grundsätzlich fand ich Merkels Politik während der Flüchtlingskrise für wenige Tage sympathisch, aber naiv. Jetzt ist ihre Haltung klarer und auch härter. Ich denke, dass Merkel während der Flüchtlingskrise viele Wähler verloren hat, aber auch, dass sie ein paar wie mich gewonnen hat. Ich möchte nicht, dass sie verliert und sie weiter in ihrer Flüchtlingspolitik unterstützten.

Rot oder Grün sind für mich in dieser wichtigen Frage Traumtänzer. So wie es Xenophobe Menschen gibt, gibt es auch Xenophile. Ich bin für Integration – aber gegen den Missbrauch des Gastrechts. Leute weiter zu schützen, wenn sie Verbrechen begehen wie in Köln oder Freiburg, finde ich nicht in Ordnung. Ich denke, dass man in solchen Fällen auch ausweisen muss. Allgemein sollte besser geregelt werden, wer rein darf und wieder raus muss. Man muss zum Beispiel einerseits zwischen Kriegsflüchtlingen und politischen Flüchtlingen und andererseits Wirtschaftsflüchtlingen unterscheiden. Ich denke, dass unsere deutsche Vergangenheit schuld ist, dass wir uns jetzt einbilden, die Welt retten zu müssen. Ob ich das nächste Mal wieder CDU wähle, weiß ich nicht. Das hängt ganz von Merkel ab.“

Rebekka, 19, 12. Klasse Fachoberschule Passau, wählt zum ersten Mal überhaupt

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Das ist Rebekka.

Illustration: Lucia Götz

„Ich habe ein mulmiges Gefühl, weil ich noch nicht wirklich weiß, wen ich wählen soll.  Viele denken, dass man mit einer Stimme nichts beeinflussen kann. Ich glaube das schon und es macht mir ein wenig Angst, dass ich eine falsche Entscheidung treffen könnte.

Ich finde es extrem wichtig, zu wählen. Man äußert seine Meinung darüber, welches Land man will. Ich will in einem Land leben, in dem es keine Krise gibt, wo es allen einigermaßen gut geht und man miteinander friedlich leben kann. Man sieht jeden Tag so viele Krisen und Katastrophen und Berichte aus Ländern, wo man nicht wählen darf. Ich empfinde das schon als ein Privileg, wählen zu können.

Ich habe mich im Netz informiert, wofür die Parteien stehen. Aber die Wahlprogramme habe ich nicht gelesen, wer macht das schon wirklich? Ich werde aber bald den Wahl-o-Mat oder eines der anderen Tools benutzen, um noch mehr Klarheit zu bekommen.

In der Familie diskutieren wir nicht über Politik – ich weiß zwar schon, was meine Eltern zu dem einen oder anderen Thema denken, aber ich glaube, selbst die sind noch unentschlossen. Wenn ich mit meinen Freunden rede, reden wir weniger über deutsche Politik und mehr über das generelle Weltgeschehen: Was Trump wieder gemacht hat, was Putin gemacht hat. 

Sich über Medien zu informieren, finde ich dabei manchmal problematisch. Ich sehe das an Leuten in meiner Schule. Je nachdem, wo sie sich ihre Informationen holen, so ticken sie. Unsere Verschwörungstheoretiker und Rechte in der Schule schauen in der Regel N24 oder irgendwas Seltsames auf Youtube und glauben dann ganz genau zu wissen, wie die Welt funktioniert. Die weichen von dem Bild, das sie sich gemacht haben, keinen Millimeter mehr ab. Egal wie gut die Gegenargumente sind. Man müsste ganz viele unterschiedliche Medien lesen oder anschauen, um ein objektives Bild zu bekommen. Aber das ist wie mit den Wahlprogrammen: Wer macht das schon wirklich?“ 

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