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„Beim Anblick von Polizisten denke ich immer noch an Schläge und Folter“

Foto: Mikhail Galyan

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Ali Feruz hat einiges hinter sich. Geboren als Chudoberdi Nurmatow in Russland, mit 17 nach Usbekistan, nach eigener Aussage gefoltert und zur Kooperation als Informant gezwungen, deswegen wiederum nach Moskau geflüchtet. Dort bekannte sich Ferus erstmals zu seiner Homosexualität, verließ seine Frau und nahm seinen neuen Namen an. Als Journalist arbeitete er fortan für die regierungskritische Zeitung Nowaja Gaseta, schrieb über Menschenrechte, die Situation von Migranten aus Zentralasien und LGBTQ-Themen. 2017 wurde er unter dem Vorwurf eines Verstoßes gegen das Aufenthaltsrecht festgenommen, vor Gericht wurde über eine Abschiebung nach Usbekistan verhandelt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beschloss daraufhin per Eilverfahren, dass Feruz nicht abgeschoben werden dürfe, da ihm in Usbekistan aufgrund seiner Homosexualität und Regimekritik Folter oder der Tod drohe.

Nach langen diplomatischen und juristischen Bemühungen und Kampagnen von Organisationen wie Amnesty International, genehmigte ein Moskauer Stadtteilgericht im Februar 2018 schließlich seine Ausreise nach Deutschland. Der 32-jährige Feruz lebt nun in Berlin und hat gemeinsam mit der Osteuropa-Nichtregierungsorganisation n-ost eine Plattform für Journalismus zu LGBTQ-Themen in der ehemaligen Sowjetunion gegründet: UNIT, zugleich Netzwerk und Online-Magazin. Einerseits wollen Feruz und sein Kollege Andreas Schmiedecker damit in Europa die Aufmerksamkeit für das Thema schärfen, andererseits sind auch innerhalb der Ex-UDSSR selbst neue Perspektiven zu vermitteln. Wir treffen Feruz an einem Dienstagabend im Büro von n-ost in Berlin-Kreuzberg. Ein bisschen kränklich fühle er sich gerade, sagt er, ansonsten alles gut.

jetzt: Ali, unter #freeali haben sich in den vergangenen zwei Jahren viele Menschen und Organisationen für deine Ausreise eingesetzt. Fühlst du dich hier in Berlin nun tatsächlich frei?

Ali Feruz: Schon als ich 2018 in Frankfurt gelandet bin, habe ich tatsächlich sowas wie Freiheit gespürt. Und klar, hier in Berlin ist es anders als in Moskau oder Usbekistan. Hier kann jemand wie ich einfach so draußen herumlaufen, es ist so etwas wie eine queere, weltoffene Insel. In Moskau muss man in vielen Teilen der Stadt aufpassen, dass man keinen Nazis begegnet, die einen verprügeln könnten. Hier habe ich diese Ängste nicht, oder nicht so sehr. Beim Anblick von Polizisten denke ich aber immer noch an Schläge und Folter. Ich muss mich noch etwas eingewöhnen. Andererseits habe ich auch die Bilder aus Chemnitz gesehen und wie verhalten dort Polizei und Politik auf die rechtsextremen Aufmärsche reagiert haben. Ich fand das bedrohlich. Dass hat mir gezeigt, dass man sich auch in Deutschland nicht überall sicher und frei fühlen kann.

Wolltest du schon länger Richtung Westen ziehen?

Ich wollte auf jeden Fall immer verreisen, andere Teile der Welt sehen. Aber Russland dauerhaft verlassen, wollte ich eigentlich nicht. Natürlich ist es nicht gerade ungefährlich, dort für eine Zeitung wie die Nowaya Gaseta zu arbeiten. Man steht ständig unter Druck, von ganz unterschiedlichen Seiten. Aber das habe ich in Kauf genommen, die Arbeit dort war es absolut wert. 

Hier in Berlin willst du dich mit deiner Arbeit vor allem auf die Situation von LGBTQ in Osteuropa und den UDSSR-Nachfolgestaaten aufmerksam machen. Von welcher Seite sind diese Menschen – mal sehr verallgemeindernd gesprochen – am meisten gefährdet? 

Das kommt alles zusammen. Es ist die Regierung, die Kirche, das soziale Umfeld, bis hin zur eigenen Familie. 

„Natürlich kommt es vor, dass die Familie ihren schwulen Sohn akzeptiert, aber dann wird in der Nachbarschaft schlecht über die Familie geredet“

Wie steht es um deine Familie?

Ich arbeite seit fünf Jahren offen als LGBTQ-Aktivist, meine Brüder und Schwestern haben davon erst in russischsprachigen Medien erfahren, in denen ich als „Schwuchtel“ bezeichnet wurde. Zu ihnen habe ich gar keinen Kontakt mehr, sie sperren sich dagegen. Nur mit meiner Mutter spreche ich noch, vor ihr habe ich mich auch selbst geoutet. Natürlich kommt es vor, dass die Familie ihren schwulen Sohn akzeptiert, aber dann wird in der Nachbarschaft schlecht über die Familie geredet.

Die nächste Ebene ist die Öffentlichkeit. Wenn du durch die Straßen läufst, wirst du von Wildfremden beschimpft, zusammengeschlagen. Und Gesetze wie das gegen „homosexuelle Propaganda“ in Russland sorgen dafür, dass solche Angriffe eine Schein-Legitimität erhalten. Hier kommt also der Staat ins Spiel, selbst wenn er, wie in Russland, Homosexualität nicht grundsätzlich verbietet.

Inwiefern?

Wenn zwei Schwule Hand in Hand die Straße hinuntergehen – was in Russland ja eigentlich erlaubt sein müsste  – und dafür brutal verprügelt werden, können sich die Täter hinterher einfach sagen:„Sie haben Schwulenpropaganda betrieben, deswegen haben wir sie bestraft.“

In zwei Ländern, Usbekistan und Turkmenistan, sind sexuelle Handlungen zwischen Männern per se verboten. Warum sind diese beiden Länder hier besonders strikt?

Usbekistan und Turkmenistan sind die beiden autokratischsten Nationen unter den Post-Sowjet-Staaten. Während die anderen Länder sich mittlerweile größtenteils von solchen Gesetzen verabschiedet haben, wurde dort daran festgehalten. Ganz einfach, weil es über diese Gesetze einfacher ist, die Gesellschaft unter noch strengerer Kontrolle zu halten. In beiden Staaten gab es keinerlei politischen Wandel, seit 1991 hat sich dort so gut wie nichts verändert. In meinem Geburtsland Usbekistan gab es aufgrund des Todes des Präsidenten Islom Karimow 2016 zwar einen Personalwechsel an der Spitze, aber die Unterdrückung geht weiter.

„Westliche Diplomaten sehen in Ländern wie Usbekistan hauptsächlich eine Chance für wirtschaftliche Investitionen“

Der neue Präsident Usbekistans, Shavkat Mirziyoyev, hat sich erst kürzlich in Berlin mit Angela Merkel getroffen, er gilt im Westen als Hoffnungsträger und Reformer. Würdest du da widersprechen?

Absolut. Natürlich will er sich Europa und dem Westen annähern, sich dem Weltmarkt öffnen. Von einem Einzug der Demokratie oder Grundrechten für LGBTQ-Menschen ist in Usbekistan aber bisher überhaupt nichts zu spüren, was dem Westen aber auch nicht besonders wichtig zu sein scheint. Westliche Diplomaten sehen in Ländern wie Usbekistan hauptsächlich eine Chance für wirtschaftliche Investitionen. 

Mit deinem Projekt UNIT willst du unterdrückten LGBTQ in der Region eine Stimme geben. In euren ersten Publikationen habt ihr dazu Protokolle von ihnen gesammelt, viele sprechen mit vollem Namen und zeigen ihre Gesichter. Wie findet man da die Balance zwischen Sichtbarkeit und Risiko? 

Natürlich ist Sichtbarkeit wichtig, für uns steht aber die Sicherheit der Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, an erster Stelle. In einem unserer nächsten Texte sprechen wir mit zwei homosexuellen Migranten aus Zentralasien, die momentan in Russland leben. Sie hatten selbst überhaupt kein Problem damit, sich mit vollem Namen und Gesicht zu zeigen. Die wussten nicht, dass sie nach solchen öffentlichen Aussagen zu ihrer Homosexualität niemals wieder gefahrlos nach Usbekistan zurück könnten. Wir haben ihnen dann erklärt, dass sie leider nur anonymisiert sprechen können. Im Zweifel sind die Geschichten wichtiger als Namen und Gesichter.

Gleichzeitig versucht ihr auch, mit Journalisten vor Ort Wege zu finden, Artikel zu LGBTQ-Themen auch in ihren Heimatländern zu veröffentlichen. In vielen postsowjetischen Ländern kann aber von freier Presse oder einer Offenheit für Artikel zu LGBTQ-Themen kaum eine Rede sein. Wie geht ihr da vor?

Wir glauben, dass man selbst in einem Land wie Usbekistan Geschichten veröffentlichen kann, die zu Akzeptanz und Sichtbarkeit beitragen, aber eben eher auf eine indirekte Art und über andere Verbreitungswege.

Das musst du genauer erklären.

Einerseits funktioniert das über Blogs von Exilanten, die in ihren Heimatländern ein großes Publikum erreichen. Aber auch innerhalb der jeweiligen Ländergrenzen sind Geschichten in unserem Sinne umsetzbar. Man muss dafür nicht „LGBTQ“ in die Überschrift packen. Man kann vom Schicksal eines Menschen erzählen, Empathie erzeugen, ohne dabei explizit dessen Homosexualität in den Fokus zu nehmen. Oder vielleicht erst einmal über Gewalt in Familien schreiben, über Gewalt gegen Frauen. Die Wurzel dieser Gewalt ist dabei ja die gleiche wie bei homophoben Ausbrüchen. Um in einer solchen Gesellschaft zu wirken, muss man behutsam sein, nicht belehrend. Und sogar ich muss dabei manchmal meine Vorurteile überdenken.

Welche Vorurteile hast du gegenüber deiner alten Heimat?

Bei der Suche nach Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten könnten, wurde ich oft selbst ziemlich überrascht. In Usbekistan gibt es zum Beispiel eine richtige LGBTQ-Organisation, die – ganz entgegen meiner Erwartung – von Feministinnen und lesbischen Frauen getragen wird. In Kirgistan gibt es auch eine Menge feministischer Gruppen, in Kasachstan eine Transgender-Bewegung. Das hätte ich alles nicht für möglich gehalten. Ich dachte, wir müssen da ganz von vorne anfangen, dabei gibt es schon so viele aktive Menschen. Sie arbeiten allerdings so verdeckt, dass sogar ich erst kürzlich im Rahmen von UNIT davon erfahren habe.

„Ein öffentliches lesbisches Leben ist überhaupt nicht vorstellbar“

Im Gegensatz zu sexuellen Handlungen zwischen Männern wurden Handlungen zwischen Frauen, sowohl zu Sowjet-Zeiten als auch heute, nie direkt kriminalisiert. Macht es das für lesbische Frauen vielleicht einfacher?

Das glaube ich nicht. Das Gesellschaftsbild dort ist radikal heteronormativ und patriarchalisch. Die bloße Existenz weiblicher Sexualität wird von vornherein negiert, man muss sie gar nicht erst verbieten. Die Rolle des Staates übernimmt – zum Beispiel in Usbekistan – in diesem Fall die Familie: Sie kontrolliert den weiblichen Körper, den Kontakt zu Männern, Hochzeiten. Ein öffentliches lesbisches Leben ist überhaupt nicht vorstellbar.

Findest du, dass die westliche Öffentlichkeit sich mehr mit euren Themen auseinandersetzen sollte, und nicht nur, wenn gerade eine Weltmeisterschaft in Russland ansteht?

Einerseits ist das verständlich, so funktionieren Medien eben heutzutage. Natürlich sind auch wir abhängig von solchen Aufmerksamkeitszyklen. Aber wir versuchen uns zu einem gewissen Grad davon zu befreien, indem wir um Mitglieder werben, die uns auch finanziell unterstützen und somit etwas von diesem Relevanzdruck befreien. Und außerdem wollen wir ja auch Geschichten in den jeweiligen Ländern selbst umsetzen, es geht nicht nur um Aufmerksamkeit im Westen.

Hältst du es für möglich, dass die besagten Regime Homosexuellen eines Tages tatsächlich die gleichen Rechte einräumen? 

Diese Systeme funktionieren auf der Grundlage, dass „schwache“ Gruppen und Minderheiten keine Stimme haben und auch in Zukunft keine Stimme haben sollten. Das ist deren interne Logik, die werden sie kaum aus freien Stücken aufgeben. Ziel unserer Arbeit ist aber nicht, mit aller Kraft irgendwelche Revolutionen oder Systemwechsel herbeizuführen. Wir können nicht jedem Land von einem Moment auf den anderen eine westliche Schablone von Freiheit und Gleichstellung überstülpen. Wir glauben aber, dass Medien eine entscheidende Rolle dabei spielen, wenn es um gesellschaftliche Veränderungen geht. Wer etwas über unterdrückte Menschen liest, empfindet Empathie. Und die kann der Anstoß für ein Umdenken sein.

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