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Meine Nacht im Chaos – und der Morgen danach

Foto: Philipp Mattheis

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Ein Kampfflugzeug zischt durch die Nacht, dann donnert es. Der Knall ist so laut, es muss hier in der Nachbarschaft passiert sein. Ich stehe auf und schaue aus dem Fenster. Doch alles, was ich sehe, sind zwei Dutzend Möwen, die von Scheinwerfern angeleuchtet davonflattern. Eine Stunde später dasselbe nochmal. Die Träume sind flach, und nah an der Realität: Soldaten verlangen nach Ausweisen, Menschen suchen nach Bargeld und Brot. 

Um 23 Uhr fängt es an: Ein kühler Wind weht vom Bosporus in das Wohnzimmer. Ein Hubschrauber bricht in die Stille, kurz darauf noch einer, und noch einer. Das sind viele, zu viele. Etwas stimmt nicht. Ich setze mich an den Computer.

Einer der Fotografen im Cihangir-Viertel postet in die Facebook-Gruppe für Journalisten: "Soldaten auf der Bosporus-Brücke. Terroranschlag?" Schon wieder? Der letzte ist gerade erst drei Wochen her, es war der vierte innerhalb eines halben Jahres. Kommt dieses Land gar nicht mehr zur Ruhe?

Auf Twitter: Bilder von Soldaten in der Nacht. Der Hashtag: #Terrorism. Die Bilder bleiben dieselben, doch irgendwann ändert sich der Hashtag. #Militarycoup steht da jetzt.

"Stay safe", "Stay inside"

Eine halbe Stunde später ist Twitter gesperrt. Das passiert immer nach Terroranschlägen. Angeblich sollen die Terroristen so daran gehindert werden, miteinander zu kommunizieren. Wer ein VPN hat, mit dem man beim Nutzen des Internets vortäuschen kann, in einem anderen Land zu sein, kann die Sperrung umgehen und trotzdem weiter verfolgen, was passiert. Die Facebook-Gruppe läuft heiß. Die häufigste Nachricht lautet "Stay safe", die zweithäufigste "Stay inside". Trotzdem gehen alle raus. Ich auch.

 

Es ist einer der wenigen Momente dieser Nacht, in der die Realität mehr ist als ein konstanter Strom von Informationen. Nichts piept und vibriert hier draußen. Kein Hashtag klebt an den Dingen.

 

Der Putsch ändert nichts daran, dass die Gegend um den Galataturm ruhig und gediegen wirkt im Vergleich zum Szeneviertel Cihangir oder dem Taksim-Platz. Ein Touristenpaar schlendert im trüben Licht der Laternen über das Kopfsteinpflaster. Sie trägt ein rotes Sommerkleid, er sucht nach dem Weg. Katzen beobachten die Menschen. Sie scheinen nichts zu wissen von dem Social-Media-Gewitter.

 

Was passiert eigentlich im schlimmsten Fall?

 

Im kleinen Tante-Emma-Laden neben dem Güney-Café decken sich die Leute mit Brot, Wasser und Zigaretten ein. Für einen Moment kommt die Panik hoch: Was passiert eigentlich im schlimmsten Fall? Für wie viele Tage habe ich Lebensmittel daheim?

Der letzte offene Döner-Stand hat kein Brot mehr. Aber der Geldautomat neben dem Turm gibt noch Lira aus. In der Facebook-Gruppe schreibt jemand, in Cihangir stünden die Menschen Schlange vor den ATMs.

 

Als ich wieder daheim bin, ist aus der Facebook-Gruppe eine Whatsapp-Gruppe geworden. Irgendjemand denkt, Whatsapp würde noch funktionieren, wenn Facebook längst geschlossen sei. Jetzt vibriert mein Handy doppelt so häufig. Alle posten in beide Gruppen. Wann immer sich jemand für ein paar Minuten nicht meldet, fragt einer: "Are you ok?"

 

Ich schalte die Gruppe auf stumm, und lese weiter Tweets. Militärputsch bestätigt. Erdoğan festgenommen. Erdoğan beantragt Asyl in Deutschland. Wie bitte? Das ist so absurd, dass ich es retweeten muss. Flughafen gesperrt. Erdoğan meldet sich via Facetime. Erdoğan fordert die Menschen auf, gegen den Putsch zu demonstrieren.

 

Eine Stunde später rufen die Muezzine. Auch sie fordern die Menschen auf, auf die Straße zu gehen, die Demokratie zu verteidigen. Die Moschee ist um die Ecke von meiner Wohnung.

 

Feiern sie das Ende des Putsches oder ist einfach was kaputt?

 

Ein letztes Mal schaue ich auf die Whatsapp-Gruppe. Zwei Fotografen sind am Taksim-Platz. Man hört das Feuer von Maschinengewehren. Einer von ihnen, ein ehemaliger US-Marine, glaubt, die Machart des Gewehrs am Geräusch erkennen zu können. "Stay safe", schreiben wieder ein paar der Teilnehmer. Die letzte Nachricht kommt um fünf Uhr morgens. Irgendwann verlieren alle gegen die Müdigkeit.

 

Um 7.30 Uhr stehe ich auf und nehme die U-Bahn zum Taksim-Platz. Die Kontrolleure, die sonst immer die Taschen der Fahrgäste auf Bomben untersuchen, winken mich durch. Heute freie Fahrt ohne Ticket. Feiert die Istanbuler Metro so das Ende des Putsches? Oder ist einfach was kaputt?

 

Erst später im Laufe des Tages heißt es: 265 Menschen sind ums Leben gekommen, 1140 wurden verletzt. Aber die Toten bleiben immer weit weg: In Ankara, in irgendwelchen Militärquartieren, Zahlen in der Ferne. Ein Blitz-Coup, der so unwirklich schnell vorbei ist, wie er begonnen hat.

 

Auf dem Taksim-Platz, dem Zentrum der 16-Millionen-Stadt, sind kaum Menschen zu sehen, und die wenigen, die man sieht, sehen müde aus. Doch das ist normal. Istanbuler schlafen lange. Araber checken mit ihren vollverschleierten Frauen in teure Hotels ein. Nur auf einer Seite des Platzes stehen Militärpolizisten. Müll liegt auf den Straßen, zu kleinen Haufen zusammengekehrt. Die Stimmung wie nach einem Fußballspiel.

 

Über die Istiklal-Straße geht ein Junge, eingehüllt in eine rote Türkei-Flagge. Er sieht aus, als feiere er den Sieg seiner Fußballmannschaft. Aber hat hier wirklich jemand irgendetwas gewonnen?

 

Auf Twitter mutmaßen sie jetzt, wer dahinterstecken könnte: Erdoğan selbst, die CIA, Russland und so weiter. Die Verschwörungstheoretiker haben nie verloren.

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