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In der Schweiz lernte ich, die EU zu lieben

Illustration: Federico Delfrati

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Meine erste Erinnerung an mich selbst als EU-Bürgerin ist eine schlechte. Ich war elf Jahre alt, als das Euro-Bargeld eingeführt wurde, und konnte mir nicht mehr zum Mittagessen kaufen, was ich wollte: McChicken nämlich.

Denn als ich nach den Weihnachtsferien wieder zu Schule ging, konnte ich mir das Sparmenü nicht mehr leisten. Meine Eltern hatten mir das Taschengeld im naiven Umrechnungskurs „Mark durch zwei“ ausgezahlt. Die Burger bei McDonalds kosteten aber immer noch etwa gleich viel – nur in Euro. Oder, wie damals alle sagten: Teuro.

16 Jahre später verließ ich die EU – nicht als späte Rache für den teuren Burger, meine Eltern haben das Taschengeld irgendwann angepasst. Mein Freund ist Schweizer und wollte nach knapp zwei Jahren in Deutschland zurück nach Zürich gehen. Als freiberufliche Journalistin dachte ich: kein Problem. Ich kann Digital-Native-Nomade-Generation-Y-Style überall arbeiten. Heute hier, morgen dort und so. Freunde aus Berlin schenkten mir einen Europa-Fan-Schal in Rot-Weiß. Das sollte lustig sein, ein bisschen ironisch, ein bisschen hip. Ich weiß noch, wie ich mir damit anfangs ziemlich albern vorkam. Wie jemand, der den Namen vom Torwart nicht kennt, sich aber beim ersten Besuch im Fußballstadion das neueste Trikot kauft. Heute trage ich den Schal als permanent wärmendes Demo-Transpi um den Hals. Achtung, abgedroschene Wahrheit: Oft weiß man ja erst, was man eigentlich Tolles hatte, wenn man es nicht mehr hat.  

So wie ich jetzt. Ich habe mir, bevor ich in die Schweiz ging, ganz genau null Gedanken darüber gemacht, was das bedeutet. Ja, andere Währung, lustige Sprache, die ich aber immerhin verstehe. Quasi ein Dialekt. Ansonsten dachte ich, das wird sich in etwa so anfühlen wie ein Umzug von München nach Berlin. Oder vielleicht nach Wien. Doch wenn man sich außerhalb der EU bewegt, sind manche Dinge auf einmal komplizierter als gewohnt. Es fängt in kleinen, alltäglichen Dingen an: Muss ich einem Schweizer (oder einer Schweizer Behörde oder einem Schweizer Online-Shop) einen genauen Betrag in Franken überweisen, wird’s schon schwierig. Überweisungen in Schweizer Franken kosten mich eine Gebühr für Auslandsüberweisung plus noch eine Gebühr für die Umrechnung der Währung. EU-weit kann man seit SEPA gebührenfrei überweisen – aber nur in Euro.

Dann ist da noch der unberechenbare Zoll. Einmal habe ich – in anfänglicher Naivität und ohne überhaupt eine Sekunde darüber nachzudenken – etwas aus einem dänischen Online-Shop bestellt. Zwei Wochen später lag ein Brief im Briefkasten: Zahlen Sie bitte 30 Franken (ungefähr 26 Euro) Zollgebühr, dies das, ich weiß bis heute nicht genau, warum. Das war ungefähr die Hälfte des Gesamtwerts der Bestellung. Überwiesen hat dann übrigens mein Freund, damit aus den 30 Franken nicht 60 werden.

Selbst wenn ich an der Grenze nur einen Apfel dabeihabe, fühle ich mich, als wären es zehn Kilo Koks

Und überhaupt: Zoll?! Klar, wer aus Kuba zurückreist, muss sich kurz überlegen, wie viele Flaschen Rum er oder sie jetzt genau mitbringen darf. Aber in die oder aus der Schweiz? Der Offline-Grenzübergang mit dem Auto ist ein schäbiger Ort mit schwer bewaffneten Polizisten und Hunden in Zwingern. Selbst wenn ich nur einen Apfel und eine Flasche Wasser dabeihabe, fühle ich mich, als hätte ich zehn Kilo Koks im Reserveradfach. Innerhalb der EU sind die Richtmengen so hoch, dass man sie kaum überschreiten kann, es sei denn, man kauft für den Gesamtwert eines Urlaubs kurz vor Abreise noch 60 Liter Schaumwein. Deshalb gibt es auch kaum mehr Zollstationen und ich habe mir bisher nie Gedanken gemacht, wenn ich mit dem Auto eine nicht mehr vorhandene Grenze passiert habe. Außer vielleicht die holländische.

Eine der neueren EU-Errungenschaften, die ich hier nicht habe, tat und tut mir aber am meisten weh. Die Roaming-Gebühren, oder besser: ihre Abschaffung. Ein Gespräch aus der oder in die Schweiz kostet mich mit einem Tarif, mit dem ich vorher EU-weit endlos surfen und telefonieren konnte, ein Vermögen. Ich hatte mich ziemlich schnell dran gewöhnt, mein Handy auch auf der südlichsten kroatischen Insel nutzen zu können, ohne dass meine Handyrechnung MTV-Klingelton-Beträge erreicht. Und ich habe mich dabei verdammt cool gefühlt. Jetzt befinde ich mich Luftlinie 57,67 Kilometer von der deutschen Grenze – und ein kurzes Gespräch nach Hause kostet mich mehr als ein Döner in Zürich (14 Franken, 12 Euro).

Ich weiß inzwischen, dass es für all diese Probleme (und viele weitere) Lösungen gibt: eine zweite Simkarte, über WhatsApp telefonieren, oder auch einfach mal nicht erreichbar sein, ein Schweizer Konto eröffnen oder oldschool Geld am Schalter einzahlen, kurz googeln und sich an die Zollbestimmungen halten. (Obwohl, die kommen mir immer noch sehr willkürlich vor.)

Die Sache ist aber: Ich weiß, dass es auch anders geht. Dieses „Anders“ ist für mich normal. Als der „Vertrag über die Europäische Union“ unterzeichnet wurde, war ich ein Jahr alt. Auf Wikipedia steht, „er stellt den bis dahin größten Schritt der europäischen Integration“ dar. Es ist mir unbegreiflich, warum man es nicht so haben wollen würde, wie ich es kenne, wenn es doch so leicht sein kann. Wenn man auf „europäische Integration“ klickt, steht da: „steht begrifflich für einen ‚immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker‘“. Dass dieses Vorhaben kontinuierlich vorangetrieben wurde und wird, merke ich erst jetzt in der Schweiz, wo mir ständig Dinge begegnen, die mir absolut rückständig vorkommen und die mir immer wieder klarmachen: Das ist nicht Zuhause. Zwischen hier und Zuhause verläuft eine Grenze. Überquere ich die Grenze nach Italien, lasse ich voller Euphorie Geld aus dem Automaten und fühle mich als würden mich alle verstehen, obwohl ich außer „Gelatti“ und „Buon Giorno“ kein Wort Italienisch spreche.

Der „Zusammenschluss der europäischen Völker“ ist vorangeschritten, während ich erwachsen geworden bin, und ich habe mein Leben lang einfach so davon profitiert. Wie damals, als ich aufs Gymnasium kam und plötzlich selbst entscheiden konnte, was es zum Mittagessen gibt. Eine Freiheit, die umso mehr schmerzte, als sie mir wieder weggenommen wurde.

 

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