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Warum die „grüne Welle“ nicht ganz Europa erfasst hat

Westeuropäische Grüne beim Feiern.
Foto: AP/AFP/Reuters

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Am Sonntagabend wurde als Reaktion auf die Hochrechnungen und Ergebnisse der Europawahl ein Emoji besonders oft gepostet und verschickt: das grüne Herz. Es wurde zum Symbol für das gute Wahlergebnis der grünen Parteien in mehreren europäischen Ländern. Oft tauchte es auch kombiniert mit dem Hashtags #GreenWave auf: Eine grüne Welle, hieß es, habe Europa erfasst. Vor allem in Deutschland, Frankreich, den Benelux-Staaten, Finnland, Dänemark und Irland legten die grünen Parteien zu. Die deutschen Grünen haben ihr Ergebnis gegenüber 2014 sogar fast verdoppelt, von 10,7 auf 20,5 Prozent. Die Prognose-Grafik, die Jörg Schönenborn dazu am frühen Abend im ARD zeigte, verdeutlichte den großen Sprung besonders schön:

Dieser Erfolg hat sicher auch damit zu tun, dass die Europawahl im Vorfeld zur „Klimawahl“ erklärt wurde. Schüler*innen und Studierende haben monatelang regelmäßig für eine konsequente Klimapolitik demonstriert und zu den Europawahlen machte die „Fridays for Future“-Bewegung noch einmal besonders mobil: Bei einem weltweiten Klimastreik am 24. Mai wurde allein in Deutschland in mehr als 200 Städten demonstriert; am Samstag haben dann etwa hundert FFF-Aktivist*innen aus mehreren europäischen Ländern den Eingang zum Europaparlament in Brüssel besetzt und dort übernachtet. In Deutschland waren es dann auch vor allem die Jungen, die den  Grünen zu ihrem phänomenal guten Ergebnis verholfen haben: 34 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und 25 Prozent der 25- bis 34-Jährigen haben sie gewählt. Bei den Erstwähler*innen stimmten sogar 36 Prozent für sie. Aber auch in anderen Altersgruppen spielte der Klimaschutz eine Rolle bei der Wahl: Im April gaben bei einer Umfrage in elf europäischen Ländern drei Viertel der Befragten zwischen 18 und 65 Jahren an, dass der Klimawandel einen wichtigen Einfluss auf ihre Wahlentscheidung haben werde.

Die meisten Abgeordneten der grünen Fraktion kommen aus West- und Nordeuropa

Doch die „Welle“, von der am Sonntag so oft die Rede war, ist anscheinend nicht durch ganz Europa geschwappt. Die Abgeordneten der zukünftigen grünen Fraktion im Europäischen Parlament (G/EFA) kommen nach aktuellem Stand fast alle aus West- und Nordeuropa. Es ist möglich, dass sich noch einzelne Abgeordnete der G/EFA anschließen werden, die Fraktionen stehen noch nicht endgültig fest. Aber einen großen Unterschied wird das nicht mehr machen. Warum also gibt es diese Spaltung der EU in grün im Westen und nicht-so-grün im Osten?

Milan Nič ist Mitglied des Robert-Bosch-Zentrums für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er lebt seit einigen Jahren in Berlin und konnte dort die Veränderungen im Lebensstil der Menschen und die gleichzeitigen Verschiebungen in der politischen Landschaft beobachten. „Die traditionellen Parteien sind nicht mehr besonders attraktiv für die Menschen hier“, sagt er. Diese Entwicklung steht exemplarisch für die meisten deutschen Großstädte, denn vor allem dort haben die Grünen in den vergangenen Jahren kräftig zugelegt. Junge, gut verdienende Akademiker*innen, denen Gesundheit und Nachhaltigkeit wichtig sind, geben ihnen ihre Stimme. Jetzt sind noch die engagierten Erstwähler*innen und Studierenden dazugekommen.

„Aber dieser Trend ist in Deutschland über 30, 40 Jahre gewachsen. Als die Grünen gegründet wurden, herrschte in den osteuropäischen Staaten noch der Kommunismus“, sagt Nič. Deutschland hat also eine umweltpolitische Tradition, die ihren Anfang in den Achtzigerjahren nahm, während in Osteuropa noch kommunistische Technokraten an der Macht waren, für die Umweltschutz keine Rolle spielte. Nič selbst ist 46 und sagt, dass auch seine Generation noch stark von diesem politischen Umfeld geprägt wurde. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mussten sich die Länder Osteuropas erstmal völlig neu sortieren. „Es wird oft vergessen, dass es keine andere Region in Europa gibt, die so viele Veränderungen innerhalb so kurzer Zeit verarbeiten musste – politisch, technologisch, gesellschaftlich“, sagt Nič. „Das ist eigentlich zu viel für ein Leben. Und politische Trends brauchen Zeit, um sich zu entwickeln.“

Nič verweist auch auf einen wichtigen strukturellen Unterschied zwischen West und Ost: Die östlichen Staaten der EU seien noch nicht in der „postmaterialistischen und postindustriellen Phase“: Es gibt mehr Industrie und Produktion, weniger Urbanisierung und mehr ländliche Gebiete mit schwacher Infrastruktur. In der Konsequenz gibt es dort weniger Akademiker*innen mit „urbanem Lebensstil“, also weniger grüne Kernwähler*innen. Deutschland sei daran übrigens mit Schuld, sagt Nič: Die Autoindustrie etwa habe ihre Produktion stark in Richtung Osten verlagert – und dadurch haben Umweltschutzmaßnahmen dort natürlich auch einen besonders negativen  Einfluss auf die Wirtschaft. Eine wichtige Frage für die ökologische Zukunft Europas und die wirtschaftliche Osteuropas ist darum auch die, wo künftig die Batterien für E-Autos hergestellt werden.

In Ungarn ist die junge Generation damit beschäftigt, den Rechtsstaat zu retten

Insgesamt plädiert Nič dafür, keine so harte Grenze zwischen einem angeblich grünen Westen und einem angeblich nicht so grünen Osten zu ziehen. Auch die junge Generation im Osten setze nämlich immer stärker auf Umweltschutz. Zwar haben die Klimastreiks der vergangenen Monate in Ost- und Südeuropa keine große Rolle gespielt – aus den genannten Gründen. „Aber der Klimawandel kommt auch dort langsam auf die Agenda. Der Lebensstil junger Menschen ist dem der Gleichaltrigen jenseits der Grenzen schon viel näher“, sagt Nič. Und er nennt einige Beispiele, die zeigen, dass auch im Osten grün gewählt wurde, die man aber auf den ersten Blick nicht unbedingt wahrnimmt.

In Polen etwa hat die oppositionelle Koalition bei den Europawahlen den zweiten Platz belegt, ihr gehört die polnische Landwirtschaftspartei an und sie hat auch ökologische Themen im Programm. In der Slowakei haben mehrere kleine Parteien, die im nationalen Parlament nicht vertreten sind, einzelne Sitze im Europaparlament gewonnen. Zwei dieser neuen slowakischen Europaabgeordneten haben vor allem mit Umweltschutz geworben. In Tschechien wurden zwei Mitglieder der dortigen Piratenpartei gewählt, die von der G/EFA umworben werden, sich ihrer Fraktion anzuschließen, weil auch ihre Ausrichtung in großen Teilen grün ist.

Um das  Wahlergebnis zu verstehen, lohnt es außerdem, sich anzuschauen, für wen die Jungen im Osten gestimmt haben, wenn nicht für Grüne. In Ungarn zum Beispiel ist die junge pro-europäische Partei „Momentum“, die sich vor allem gegen Viktor Orbán und seine Fidesz stark macht, drittstärkste Kraft geworden. Man könnte also sagen, dass die junge Generation dort gerade erst einmal damit beschäftigt ist, den Rechtsstaat in ihrer Heimat zu retten.

Milan Nič betont noch, dass es nun erstmal gelte, auf die Verbindungen statt auf die Unterschiede zu schauen. Die grünen Abgeordneten aus Osteuropa seien zwar in der Unterzahl, aber aus diesen Staaten zögen trotzdem verschiedene Partner für den Klimaschutz ins Europaparlement ein. Damit hat er sicher recht: Schon vor der Wahl und auch am Sonntagabend haben sich fast alle Fraktionen des Parlaments, von links über die Mitte bis konservativ, für den Klimaschutz ausgesprochen. Und der kann ja auch nur dann wirklich effektiv sein, wenn alle an einem Strang ziehen. Ein gutes Ergebnis für eine pro-europäische Partei, egal ob grün oder nicht, ist also hoffentlich auch immer ein gutes Ergebnis für die Umwelt.

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