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Warum ist das Europaparlament so alt?

Illustration: Julia Schubert

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Der Konflikt um die EU-Urheberrechtsreform wurde oft so zusammengefasst: Internet-Versteher gegen Internet-Nullchecker. Youtuber gegen Europapolitiker. Influencer gegen Axel Voss. Oder schlicht: alt gegen jung. Alte Menschen im Europaparlament hätten da etwas entschieden, hieß es, dass das Leben junger Menschen verschlechtern würde.

Ganz so einfach war es natürlich nicht. Zum einen gab es auch ältere Gegner der Reform (auch im EU-Parlament), zum anderen interessieren sich nicht nur junge Menschen für die Digitalisierung. Was an der Vereinfachung allerdings stimmt: Es gibt wirklich viele alte Menschen im Europaparlament (EP). Man könnte sogar sagen, dass es überaltert ist. Und um die Behauptung zu stützen, braucht es ein paar Zahlen:

Das Durchschnittsalter der Mitglieder des Europäischen Parlaments (MEP) liegt bei 55 Jahren. Das sind neun Jahre mehr als das Durchschnittsalter in den beiden ältesten EU-Staaten (Deutschland und Italien), 18 Jahre mehr als im jüngsten (Irland) und 14 Jahre mehr als in der gesamten EU. Der Vergleich ist nicht ganz fair, weil es in allen Staaten Kinder gibt, aber keine Kinder ins EU-Parlament gewählt werden können – aber sogar der deutsche Bundestag ist durchschnittlich fünf Jahre jünger. Von 751 Abgeordneten im Europaparlament sind nur 84 jünger als 40. Elf Mitgliedsländer haben kein einziges MEP unter 40. Und in den wichtigsten Ausschüssen, etwa dem für auswärtige Angelegenheiten und dem für Menschenrechte, sind die Mitglieder über 60 deutlich stärker vertreten als alle anderen Altersgruppen.

Bei der Europawahl 2014 haben nur 28 Prozent der 18- bis 24-Jährigen gewählt

Kurz gesagt: Junge Menschen sind im Europäischen Parlament nicht gut vertreten. Nun könnte man sagen, dass die Wähler daran selbst schuld sind: Bei der Europawahl 2014 haben nur 28 Prozent der 18- bis 24-Jährigen gewählt, da dürfen sie auch nicht erwarten, zu einem höheren Prozentsatz repräsentiert zu werden. Aber selbst, wenn mehr von ihnen gewählt hätten, gab es trotzdem kaum junge Kandidaten, für die sie hätten abstimmen können. In Deutschland etwa war der durchschnittliche Kandidat für die Europawahl 2014 48 Jahre alt.

Woran liegt es, dass so wenig junge Menschen, denen man doch immer eine Begeisterung für Europa nachsagt, im Europäischen Parlament sitzen? Was sagen die jungen Kandidaten dazu, die es dieses Jahr wagen und Ende Mai zur Wahl stehen? Und was erwartet sie, wenn sie gewählt werden – wie ist es also als junges MEP in Brüssel und Straßburg? So abschreckend, dass die meisten darauf einfach keine Lust haben?

Damian Boeselagers Partei könnte den Altersschnitt im EP senken, wenn er denn hineingewählt wird. Der 31-Jährige ist Vizepräsident und deutscher Spitzenkandidat von Volt, der ersten paneuropäischen Partei: Sie tritt bei der Europawahl in mindesten zehn Ländern an. Die jüngste Kandidatin ist 22. Volt wurde 2017 als pro-europäische Bewegung von Damian, einer Französin und einem Italiener gegründet, in Deutschland ist sie seit März 2018 eine eingetragene Partei. „Wir hatten das Gefühl, dass es riesige europäische Herausforderungen gibt, aber die traditionellen Parteien es nicht recht hinbekommen“, sagt Damian. Was ja auch einer der Hauptgründe ist, aus dem viele junge Menschen nicht in die Politik gehen: Die alten Parteien erscheinen ihnen unattraktiv, unbeweglich, ineffektiv. Dem will Volt etwas entgegensetzen.

Volt hat das gegenteilige Problem des Parlaments: Sie werden als eine Art Jugendpartei gehandelt, als Newcomer ohne Erfahrung. Aber eben auch als die, die junge Menschen vielleicht für Europapolitik begeistern könnten. Weil sie neu sind und als erste Partei wirklich über Landesgrenzen hinweg arbeiten, mit einem Programm, das viele Themen umfasst, die jungen Menschen wichtig sind: Klimaschutz, Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, Zukunft der Arbeit.

„Ihr seid super, aber noch jung. Setzt euch erst mal auf die Rückbank“

Anfang März hat Damian gemeinsam mit 19 weiteren jungen Europawahl-Kandidaten aus zehn EU-Staaten an einem Training in Brüssel teilgenommen. Das Programm umfasste Tipps für eine erfolgreiche Kampagne, Infos zum Brüsseler Politikbetrieb und ein Medientraining. Organisiert wurde das Ganze von EU40, einem Netzwerk für MEP unter 40. Adam Mouchtar, der im EP als Berater für verschiedene Abgeordnete arbeitet, hat es vor zehn Jahren mitgegründet.

Adam erzählt in seinem Büro im Parlament, wie sich schon 2004 eine Clique neu gewählter Abgeordneter zusammengetan hat: „Das waren zehn, 15 Leute, die alle jung, dynamisch, proeuropäisch und mit viel Eifer hier reinkamen – und dann sind sie gegen eine Mauer gelaufen. Von den Martin Schulzes und Elmar Broks, die schon lange hier waren, wurde ihnen gesagt: ,Ihr seid super, aber noch jung. Setzt euch erst mal auf die Rückbank und in zehn Jahren werdet ihr auch mal einen Ausschuss leiten.‘ Aber sie haben gesagt: ,Nee, das ist Zeitverschwendung. Dafür sind wir nicht gewählt‘“

Aus dem losen Netzwerk schuf Mouchtar 2009 dann die legale Form, eine gemeinnützige  Einrichtung, offen für alle jungen Parlamentarier. „Das hat gut funktioniert. Es hat sich herausgestellt, dass es das Bedürfnis danach gab“, sagt er heute. Seitdem ist EU40 Anlaufpunkt für junge MEP, die sich vernetzen wollen, und bietet Veranstaltungen und Trainings an. Dabei geht es meist darum, wie man Politik anders und jünger kommunizieren kann. EU40 sei aber, betont Adam, „ein Netzwerk für die Brüsseler Blase“, also innerhalb des EU-Institutionen. „Die Kandidaten müssen das dann schon selbst an die Wähler herantragen.“

„Natürlich muss man erstmal beweisen, was man kann“

Das wäre dann zum Beispiel die Aufgabe von Volt-Vizepräsidenten Damian Boeselager. Von Maria Walsh, 31, die für die irische Fine Gael antritt. Von Said Abdu, 32, einem Kandidaten der schwedischen Liberalena. Oder von Moritz Körner, 28, FDP. Es gibt sie ja, die jungen Politiker, die ins Europaparlament wollen. Aber was denken sie, warum es von ihnen nicht noch mehr gibt?

Said Abdu vermutet, dass es unter anderem an der Work-Life-Balance liegen könnte. „Berufspolitiker sein ist sehr hart, du bist viel unterwegs“, sagt er am Telefon, während er selbst versucht, am Hamburger Hauptbahnhof das Gleis zu finden, an dem sein Zug Richtung Köln abfährt. Er sagt, dass es rund um den Politikbetrieb mehr Möglichkeiten für Kinderbetreuung geben müsste. „Und es müsste insgesamt leichter sein, in die Politik ein- und auch wieder auszusteigen.“ Die Hürden für beides seien oft zu hoch.

Maria Walsh ist ebenfalls unterwegs, als sie die Frage beantwortet, mit dem Auto in Irland, und gerät regelmäßig in Funklöcher. Sie beschreibt die geringe junge Repräsentation im EP als Henne-Ei-Problem: „Viele sagen sich: Ich werde nicht einbezogen, im Parlament gibt es ja niemanden, der aussieht wie ich oder denkt wie ich.“ In der Konsequenz gehen sie nicht wählen, dadurch werden junge Kandidaten weniger gewählt, dadurch fehlen Anreize, selbst zu kandidieren. Maria will dieses Schema durchbrechen, zum Beispiel, indem sie in ihrer Kampagne Universitäten und junge Unternehmen besucht.

Moritz Körner, FDP, nennt zusätzlich ein vor allem deutsche Problem: „Wir gehen zu arrogant an die EU und das Europaparlament heran. Häufig wird es nicht so ernst genommen wie der Bundestag, in anderen Ländern ist das ganz anders.“ Langsam verändere sich aber auch in Deutschland etwas. Moritz selbst, der auf Listenplatz vier sehr wahrscheinlich ins Europaparlament gewählt wird, macht sich auch keine Sorgen, aufgrund seines Alters nicht ernst genommen zu werden, weil er im Landtag in NRW gute Erfahrungen gemacht hat. „Natürlich muss man erstmal beweisen, was man kann. Aber wenn du deine erste Rede gehalten oder im Ausschuss gut argumentiert hast, dann wirst du schnell respektiert“, sagt er – und schiebt dann noch vorsichtig hinterher: „Ich weiß nicht, ob das im Europaparlament, das noch mal größer und älter ist, anders ist.“

„Im Ausschusssaal wurde mir gesagt, auf den Abgeordnetenplätzen dürften nur Abgeordnete sitzen“

Terry Reintke muss es wissen. Die 31-Jährige sitzt seit 2014 für die Grünen im Europaparlament. Bis Ende 2017 war sie Co-Vorsitzende der Youth Intergroup und hat in dieser Rolle erfolgreich dafür gekämpft, dass Praktika im EP bezahlt werden. Vergangenes Jahr hat sie mit gemeinsam mit Yannick Haan (SPD), Diana Kinnert (CDU),  Ria Schröder (FDP) und Shaked Spier (Linke) ein überparteiliches „junges Manifest“ veröffentlicht. Darin fordern sie einen stärkeren Fokus auf Themen, die jungen Menschen wichtig sind, sowie die bessere Einbindung von jungen Akteuren in den Parteien.

Obwohl Terry Reintke schon vor dem Einzug ins EP jahrelang politisch aktiv gewesen ist, war der Einstieg in Brüssel nicht ganz leicht. „Das Parlament ist in den vergangenen Legislaturperioden zwar jünger geworden, aber mit 27 und als Frau war ich trotzdem eine totale Irritation“, sagt sie. „Im Ausschusssaal wurde mir gesagt, auf den Abgeordnetenplätzen dürften nur Abgeordnete sitzen.“ Man hielt sie für eine Praktikantin.

Noch bis heute werde sie ab und zu herablassend behandelt, aber es sei schon viel besser geworden: „Wenn die anderen merken, dass man gut verhandelt, wird man als gleichgestellt wahrgenommen.“ Außerdem findet sie die Arbeit im Europaparlament im Vergleich zum Bundestag reizvoller, weil sie hier als einzelne Abgeordnete viel größeren Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen kann. Als Beispiel nennt sie die Verhandlung der Entsenderichtlinie, an der sie maßgeblich beteiligt war: „Das war für mich ein riesiger gesetzgeberischer Erfolg! Ich bin aus einer kleinen Fraktion und ich bin jung – aber wenn du gute Kompromissvorschläge machst, kannst du im Europaparlament sehr erfolgreich sein. Es ist das spannendste Parlament und ich will in keinem anderen sitzen.“

Terry Reintke betont dann noch etwas, das auch alle anderen in den Gesprächen erwähnt haben, Moritz Körner und Maria Walsh, Adam Mouchtar, Damian Boeselager und Said Abdu: dass am Ende die Mischung entscheidend ist. Niemand will ein rein junges Parlament. Erst eine gute Verbindung aus neuen Ideen und langjähriger Erfahrung macht ein Parlament dynamisch und wirksam. Said Abdu fasst das, ganz logisch, so zusammen: „Diversität ist wichtig. Überall.“

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