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„Das Gefühl, benachteiligt zu sein, wird vererbt“

Celine (r.) hat Jura studiert und ist Projektmanagerin für die Organisation ADYFE (African Diaspora Youth Forum in Europe), die junge Menschen mit afrikanischer Herkunft fördert und sie mit europäischen und afrikanischen Unternehmen vernetzt, um Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Adélaide macht gerade ihren Master in BWL und ist Programmmanagerin für das African Caribbean Pacific Young Professionals Network, bei #DiasporaVote ist sie als Freiwillige aktiv. Beide leben und arbeiten in Brüssel.
Foto: Nadja Schlüter

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Celine Fabrequette, 29, und Adélaide Hirwe, 31, wollen vor der Europawahl am 26. Mai Menschen aus der afrikanischen Diaspora – also Menschen mit Wurzeln in afrikanischen Ländern, die in Europa leben – motivieren, ihre Stimme abzugeben und sich zu engagieren. Im Rahmen von #DiasporaVote, einer Initiative der Organisation ADYFE (African Diaspora Youth Forum in Europe) bieten sie darum verschiedene Formate an, um sich in Sachen EU weiterzubilden: Wie funktioniert sie? Welche Institution macht was? Wie kann ich selbst Einfluss nehmen?

jetzt: Wie viele Repräsentanten der afrikanischen Diaspora gibt es im EU-Parlament?

Celine: Nicht viele. Neulich habe ich ein Foto der Parlaments gesehen und war geschockt: Du kannst darauf nur zwei, drei Köpfe sehen, die nicht weiß sind. Und wenn du dir dann die EU anschaust, dein Land oder sogar nur deine kleine Stadt, siehst du viel mehr Diversität. Da ist es doch verständlich, dass viele Menschen diesen Repräsentanten nicht vertrauen. Weil niemand dabei ist, der so aussieht wie sie. Dabei will die EU doch, dass jeder sich als Europäer fühlt.

Nicht nur das Parlament, auch die restlichen EU-Institutionen sind nicht besonders divers, oder?

Adélaide: Wenn du hier in Brüssel zu einem Event mit dem Thema „Diversität“ gehst, siehst du, dass damit vor allem „Gleichstellung der Geschlechter“ gemeint ist. Die Gender-Debatte ist so wichtig geworden, dass sie alles andere überdeckt. Es geht nicht um Behinderungen, Herkunft, Religion – sondern das Ziel gilt als erreicht, sobald es gleich viele Männer und Frauen in Führungspositionen gibt.

Celine: Vergangenen Sommer war ich bei einem Event der „European Women’s Lobby“ mit Věra Jourová, der EU-Kommissarin für Gleichstellung. Dort habe ich angesprochen, dass die Gleichstellungs-Strategie der Kommission vor allem weißen Frauen hilft. Es war leider, als ob ich Chinesisch mit den anderen Teilnehmerinnen gesprochen hätte – sie haben nicht verstanden, worum es mir geht. Mit #DiasporaVote wollen wir jetzt die Betroffenen motivieren, sich selbst zu engagieren. Vergangenen November ist außerdem eine Studie erschienen, die noch mal bestätigt, dass wir eine solche Initiative brauchen.

Was für eine Studie?

Celine: Sie heißt „Being Black in the EU“ und wurde von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte herausgegeben.

Adélaide: Die Ergebnisse zeigen, wie viel Diskriminierung es gibt. Zum Beispiel haben Menschen mit afrikanische Herkunft schlechteren Zugang zu Wohnraum.

Celine: Oder zu Jobs. Auch mit Uni-Abschluss arbeiten viele in Positionen, für die sie überqualifiziert sind. Weil sie keine andere Wahl haben. Im März wurde vom Europaparlament eine Resolution zu den Grundrechten von Menschen afrikanischer Herkunft in Europa beschlossen. Die kommende Kommission wird darin aufgefordert, auch im Sinne dieser Community zu handeln. Ich war überwältigt, dass eine große Mehrheit der Abgeordneten dafür gestimmt hat! Das zeigt, dass die EU endlich etwas verstanden hat.

„Du kannst versuchen, das System zu verstehen und es dann zu ändern. Es wurde schon mal geändert und es wird wieder geändert werden“

Und wie ist die Haltung der Diaspora zur EU?

Adélaide: Im Rahmen von #DiasporaVote haben wir im Dezember ein EU-Training für zehn junge Menschen veranstaltet. Viele von ihnen waren überrascht, dass wir schon mal im Parlament waren. Ich habe ihnen gesagt: „Das ist euer Parlament, ihr bezahlt dafür, das sind eure Repräsentanten, natürlich könnt ihr da reingehen!” Dann hatten wir eine Fragerunde mit einem Mitarbeiter der Kommission und die Teilnehmer wurden ziemlich emotional. Manche haben gesagt, dass sie die EU hassen.

Weil sie das Gefühl haben, dass die EU gegen sie ist?

Adélaide: Ja, und gegen ihr Herkunftsland. Niemand hat ihnen bisher erklärt, wie genau die EU funktioniert und wie sie selbst Einfluss nehmen können. Lustigerweise ist eine Teilnehmerin, die besonders wütend war, jetzt Kandidatin.

Sie tritt fürs EU-Parlament an?

Adélaide: Ja. Zwei sogar. Nach dem Training waren alle sehr aufgebracht, aber dann haben wir noch mal so eine Art „Kumbaya-Session“ gemacht: Wir haben darüber gesprochen, was Menschen afrikanischer Herkunft vor uns geleistet haben, damit wir heute überhaupt hier zusammensitzen können, was die nächste Generation tun kann, damit in Zukunft alle Formen und Farben der EU repräsentiert werden und so weiter. Und da haben die beiden gesagt: „In fünf Jahren treten wir an!“ Und ein paar Wochen später: „Wir treten dieses Jahr an!“

Celine: Das Ergebnis macht uns glücklich. Anscheinend haben wir was richtig gemacht.

Adélaide: Du kannst das System hassen, so viel du willst, und du kannst die Menschen, die die Gesetze verabschieden, daheim verfluchen – sie werden die Gesetze trotzdem verabschieden. Oder du kannst versuchen, das System zu verstehen und es dann zu ändern. Es wurde schon mal geändert und es wird wieder geändert werden.

Das Training war das Pilot-Projekt von #Diasporavote. Wie geht es jetzt weiter?

Celine: Die Teilnehmer des Trainings – außer die, die zur Wahl antreten – sind jetzt unsere „Botschafter“. Sie organisieren Veranstaltungen zu verschiedenen Themen und wir unterstützen sie dabei.

„Wenn deine Eltern sich ausgeschlossen fühlen, geben sie das an dich weiter“

Was für Veranstaltungen sind das?

Celine: Weil die Teilnehmer so schockiert von der Studie waren, geht es bei den meisten Veranstaltungen um Diskriminierung. Es gab zum Beispiel eine in Trappes, einer Stadt bei Paris, zu der Frage, was die EU gegen Diskriminierung tut. Wir haben es geschafft, dass auf dem Panel Vertreter der Kommission, des Parlaments und des Rats saßen! Trappes ist ein Ort, wo sie normalerweise niemals hingehen würden: 32 000 Einwohner, 70 Prozent afrikanische Herkunft, Nichtwähler. Ich glaube, die Vertreter der Institutionen haben da mindestens genauso viel gelernt wie die Bürger. Normalerweise kommen zu ihren Veranstaltungen ja immer dieselben Leute. Und die, die nicht kommen, sind oft die, die am meisten leiden oder am meisten zu sagen hätten.

Adélaide: Das Gefühl, benachteiligt zu sein, wird vererbt. Wenn deine Eltern sich ausgeschlossen fühlen, geben sie das an dich weiter.

Celine: Das zu durchbrechen ist nicht leicht. Es ist harte Arbeit.

Habt ihr im Rahmen der Initiative auch Erfahrungen mit Rassismus gemacht?

Celine: Ja. Unsere Kollegin Sarah hat auf unserem Youtube-Kanal ein Video über die Resolution veröffentlicht und wurde in den Kommentaren rassistisch angegriffen.

Adélaide: Es gab sogar Mordaufrufe.

Celine: Wir werden das zur Anzeige bringen. Als gutes Beispiel. Denn was in der Studie auch vorkam: dass viele Menschen, die Opfer von Rassismus oder Hassverbrechen werden, nicht zur Polizei gehen. Weil sie glauben, dass das eh nichts bringt.

Adélaide: Ich kenne eine Frau, die während ihrer Schwangerschaft auf der Straße verprügelt und beschimpft wurde, sie solle „zurück in ihr Land“ gehen – eine Frau, die in Europa geboren und aufgewachsen ist. Sie ist zur Polizei gegangen und da sagte man ihr einfach nur: „Du und dein Baby, ihr lebt doch noch.“ Sowas passiert und es ist verständlich, dass manche Menschen ihre Geschichte nicht erzählen wollen, wenn sie es sein kann, dass sie nicht ernst genommen werden.

Wie geht es nach der Europawahl weiter?

Celine: Wir wollen weitere Trainings machen, wenn es geht, auch in anderen Ländern und Sprachen. Wir führen die Video-Reihe „Ta minute européene“ auf unserem Youtube-Kanal weiter: Einmal die Woche erklärt jemand in einem kurzen Video, wie die EU funktioniert. Und jeden Samstag machen wir über Social Media ein Live-Fragerunde mit einem Gast von der EU. Insgesamt ist unser Ziel, der Diaspora die Mittel an die Hand zu geben, den Wandel herbeizuführen, den sie sich wünschen. Das ist viel Arbeit – aber wenn du dann siehst, dass eine Resolution verabschiedet wird oder auch nur, dass eine Mitarbeiterin der Kommission bei deiner Veranstaltung ihren Block voll schreibt, weißt du, dass es Schritt für Schritt vorwärts geht.

 

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