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„Die Jugend feiert, als gäbe es kein Morgen, weil sie weiß, dass es vielleicht kein Morgen gibt“

Fotos: Marvin Ruppert / Pierre Jaravan

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Im Dezember vergangenen Jahres lese ich auf meinem Handy die Nachricht: „Pierre, I need your advice and help.“ Mein Cousin aus Beirut. Und weiter: „I wanna move to Germany.“ Ziad ist 25. Wie die meisten jungen Libanesen träumt er davon, das Land, in dem er geboren ist, zu verlassen. Am Nachmittag des 4. August bin ich derjenige, der ihm schreibt: „What happened? Are you ok?“ Er hat soeben ein Video der Explosion geteilt. Später in der Nacht – CNN zeigt mir gerade das, was vom Hafen übrig ist – blicke ich erneut auf das Handy: „I am very sad. It’s too much to handle“, schreibt Ziad.

Seit Dienstag tauchen vereinzelte Videos immer wieder auf, gehen viral. Die von der Explosion aus verschiedenen Perspektiven, natürlich. Aber auch das eines Vaters, den eine Überwachungskamera zeigt, wie er im Moment, als die Scheiben bersten, instinktiv seinen Sohn auf den Arm hebt und mit ihm unter einen Tisch kriecht. „Such bravery“ schreibt eine Nutzerin, und ich denke Nein. Das ist kein Mut, das ist Gewohnheit. Weil verdammt nochmal jeder Mensch über 30 in diesem Land seit seiner Kindheit weiß, was im Moment einer Explosion zu tun ist.

„Beirut war eine Stadt ewigen Baulärms, stets darum bemüht, auch die letzten Spuren ihrer gewaltvollen Vergangenheit zu tilgen“

Der Bürgerkrieg ist seit 1990 vorbei. Das Beirut meiner Kindheit war eine Stadt ewiger Sommer. Nur zu dieser Jahreszeit bekam ich sie zu sehen. Wenn in Deutschland Ferien waren, flogen wir zurück in das Land, das meine Eltern 1982 zu Kriegszeiten verlassen hatten. Wir besuchten Verwandte, und Beirut veränderte jedes Jahr das Gesicht, trug jedes Jahr weniger Narben. Neue Häuser entstanden, und ich musste mich immer neu orientieren. Ein ewiges Labyrinth. Es war, als würde ich in ein Kaleidoskop schauen, das mir immer neue Formen ein und derselben Stadt zeigte.

2006 wurden weite Teile der Hauptstadt im Julikrieg mit Israel erneut zerstört. Doch nur drei Jahre später kürte die New York Times Beirut zur „Stadt des Jahres“. Zum Fluchtort für zensurmüde Künstler, Homosexuelle, Strandsucher und Nachtschwärmer. In den Vierteln Gemmayze und Mar Mikhael reihten sich Bars, Coffee-Shops und Nachtclubs aneinander, die Partygänger aus aller Welt anzogen. Nur eines blieb unverändert, über Jahre hinweg: Beirut war eine Stadt ewigen Baulärms, eine gigantische Reparaturwerkstatt, stets darum bemüht, auch die letzten Spuren ihrer gewaltvollen Vergangenheit zu tilgen, und die einzigen sichtbaren Konstanten waren die Baukräne über den Wolkenkratzern.

„Er weiß, dass es in diesem Land, das ja nur ein zu groß geratener Küstenstreifen ist, keine Zukunft oder Perspektive gibt“

Wer wollte, konnte darin Aufbruch sehen. Neugestaltung, Widerspenstigkeit. Ein Sich-nicht-unterkriegen-lassen als Lebensgefühl. Sieben Mal ist Beirut zerstört worden, sagen die Libanesen gern, und sieben Mal ist es auferstanden. Europäer, die das vermeintliche Wagnis eingegangen sind, den Libanon zu bereisen, berichten nach ihrer Rückkehr erstaunt von der Feierwut junger Libanesen. „Die können feiern, als gäbe es kein Morgen“, heißt es. Und es stimmt. Doch hieraus schiere Lebensfreude abzuleiten ist falsch. Die Jugend feiert, als gäbe es kein Morgen, weil sie weiß, dass es vielleicht kein Morgen gibt.

Wer, wie Ziad, nach dem Krieg geboren ist, weiß vielleicht nicht aus Erfahrung, was bei einer Explosion zu tun ist. Aber er weiß, dass es in diesem Land, das ja nur ein zu groß geratener Küstenstreifen ist, halb so groß wie Hessen, keine Zukunft oder Perspektive gibt. Jeder hier kennt Geschichten von Vätern, die Arbeit in den Emiraten annehmen, um Geld nach Hause zu schicken, damit das Kind eine der besseren Universitäten besuchen und später das Land mit guter Ausbildung verlassen kann. „I would love to continue my studies in car mechanics”, schrieb Ziad mir im vergangenen Herbst, „but I’m also open to business management, design, music …” – also Hauptsache weg.

„Die Verletzten vom Dienstag werden zum Teil unter den Lichtkegeln der Handytaschenlampen von Ärzten versorgt“

Schätzungen der Weltbank zufolge wird jeder zweite Libanese unterhalb der Armutsgrenze leben, wenn dieses Jahr vorbei ist. In den vergangenen acht Monaten hat das libanesische Pfund rund 80 Prozent an Wert verloren. Während der ehemalige Ministerpräsident 16 Millionen US-Dollar aus seinem Privatvermögen an ein südafrikanisches Bikini-Model zahlt, tauschen die Menschen in Facebook-Foren Fernseher gegen Windeln, versuchen irgendwie an Nahrungsmittel zu kommen, um zu überleben. Dasselbe gilt für die rund 1,5 Millionen syrischen Geflüchteten, die das Land aufgenommen hat – das sind weltweit die meisten aufgenommenen Flüchtlinge pro Kopf.

Die Libanesen wissen seit Jahren, dass der Staat kein Interesse daran hat, sie zu schützen. Die Explosion vom Dienstag hat das jetzt der ganzen Welt offenbart. Wenn 2750 Tonnen Ammoniumnitrat – Sprengstoff mit der Sprengkraft einer kleinen Atombombe – über Jahre hinweg in Säcken aufeinandergestapelt in einer Lagehalle vermodern können, inmitten von Zivilisten, dann hat das zwei Gründe: Fahrlässigkeit und Korruption. Die libanesische Regierung unterdrückt die eigene Bevölkerung mit beidem seit Jahrzehnten.

„Die da oben“ sind nichts anderes als Clans. Mächtige Familien, die seit Ende des Bürgerkriegs an der Macht festhalten, nachdem sie einander während des Kriegs noch in Form von Milizen gegenüberstanden, und die den Libanon als ihre persönliche Müllkippe begreifen: das Leitungswasser ist nicht trinkbar, die Mieten explodieren, mehrfach am Tag fällt der Strom für Stunden aus. Auch in den Krankenhäusern. Die Verletzten vom Dienstag werden zum Teil unter den Lichtkegeln der Handytaschenlampen von Ärzten versorgt.

Wie sooft in diesem Land haben Hoffnung und Enttäuschung sich zuletzt abgewechselt – nur in kürzeren Abständen, als gewohnt. Noch im vergangenen Herbst gab es friedliche Proteste. Menschen jeden Alters und jeder Konfession schwenkten die Fahne mit dem Zedernsymbol, riefen „Alle heißt alle“, und meinten: „Alle müssen weg. Jeder einzelne in dieser Regierung.“ Dann wurde die Bewegung durch den Lockdown gebremst.

„Ich ahne: Wenn die Scherben erst beseitigt sind, werden weitere Erschütterungen folgen“

Die Explosion ist, wie ich immer mehr begreife, auch eine Implosion gewesen. Vielleicht die eine zu viel. 300 000 Menschen sind seit Dienstag ohne Obdach. Das ist im Verhältnis ungefähr so, als verlören rund 3,6 Millionen Deutsche auf einen Schlag ihr Zuhause. Inmitten der schlimmsten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes. Und einer Pandemie.

Am Mittwochmorgen postet Ziad Fotos von Gemmayze und Mar Mikhael. Wo die Coffee-Shops und Bars waren – Kilometer vom Hafen entfernt – nur Ruinen. Am Abend teilt er das Video eines Journalisten, der den Präsidenten Michel Aoun nur als „Herr Aoun“ anspricht, weil dieser die Bezeichnung „Präsident“ nicht verdient habe. Trauer und Wut sind in diesem Land Geschwister. Ich ahne: Wenn die Scherben erst beseitigt sind, werden weitere Erschütterungen folgen.

Als die Anfrage kommt, einen Gastbeitrag zu schreiben, zögere ich. Wie soll man etwas beschreiben, für das man keine Worte hat? Außerdem bin ich es leid, über den Libanon nur in Krisenzeiten zu sprechen, weil da auch die Angst ist, Klischees zu bestärken, nicht zur Geltung bringen zu können, was dieses Land auch ist: pure landschaftliche Schönheit, Historie und archäologische Stätten, die einem den Atem verschlagen. Gastfreundschaft, Lächeln. Dann sehe ich in meinem Postfach die Nachricht einer Libanesin, die meinen Roman auf English gelesen hat: „While our voices and screams can get lost in the echo, you have your pen. Please use it for the sake of all of us. We are all heartbroken yet full of rage.“

Zum Autor: Pierre Jarawan wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, Jordanien, geboren, nachdem diese vor dem Bürgerkrieg geflohen waren. Im Alter von drei Jahren kam er mit seiner Familie nach Deutschland. 2012 wurde er Internationaler Deutschsprachiger Meister im Poetry Slam. Sein Romandebüt „Am Ende bleiben die Zedern“ (2016) war ein internationaler Bestseller. Im März 2020 erschien sein neuer Roman „Ein Lied für die Vermissten“. Pierre Jarawan lebt in München.

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