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„Wir sind die Revolution, ihr seid der Bürgerkrieg“

Foto: Julia Neumann

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In der Innenstadt Beiruts ist es laut: Studierende klopfen mit Kochlöffeln und bloßen Händen gegen eine Stellwand unweit des Regierungsgebäudes. Im Chor schreien sie „Revolution“, aus Lautsprechern dröhnt ein Slogan, der durch die arabischen Aufstände 2011 populär wurde: Die Leute wollen den Fall des Regimes, hinterlegt mit Musik. Die 21-Jährige Sara Safieddine steht in der Mitte der Gruppe und ruft den umliegenden Balkonen zu „Kommt runter, eure Leute sind hier.“ Aus ihrer Sicht gibt es so viele Gründe derzeit zu protestieren, es lohne sich gar nicht, alle aufzuzählen: „Wir wollen einen Wandel. Wir wollen eine neue Regierung, die uns ernst nimmt.“

Die Studierenden fordern unter anderem, dass mehr Geld in Bildung investiert wird, Bildung für alle bezahlbar wird und Mitspracherecht durch neue Studierendenvertretungen. Die Protestierenden wollen den Rückzug aller Politiker und eine unabhängige, technokratische Übergangsregierung, die Neuwahlen organisiert und das konfessionelle Wahlrecht abschafft. Vor allem aber fordern sie öffentliche Gelder zurück, die Parteien, die öffentliche Verwaltung und das Parlament dem Land seit Jahren durch Korruption entzogen haben.

Safieddine studiert Filmwissenschaft an der Libanesischen Universität (UL). „Es ist die einzige staatliche Universität im Land und die Regierung stiehlt das Geld, das sie für die Studierenden ausgeben sollte. Die Gebäude sind heruntergekommen, die Ausstattung ist schlecht, manche Professor*innen haben nicht mal Stifte, um etwas anzuschreiben. Was für eine Universität ist das? Was für eine Regierung haben wir!“

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Foto: Julia Neumann

Auch am ersten Tag der Proteste, dem 17. Oktober, war Safieddine auf der Straße. Angefangen hatten die Aufstände mit einem spontanen Protest gegen die Ankündigung des Telekommunikationsministers, auf die Nutzung von WhatsApp eine Gebühr von sechs US-Dollar im Monat erheben zu wollen. Es war nur eine von vielen spontanen Steuererhebungen,  mit denen das Land einen Staatsbankrott abwehren will. Der Libanon steht kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Staatsschulden von 86 Milliarden US-Dollar entsprechen 150 Prozent des Bruttoinlandproduktes.

Als Reaktion auf die Proteste trat Ministerpräsident Saad Hariri am 29. Oktober zurück. Eigentlich sollte direkt eine Übergangsregierung geformt werden, doch der Präsident und das Parlament lassen sich mit der Ernennung eines provisorischen Ministerpräsidenten Zeit. In einem Interview am Dienstag hatte der 84-Jährige Präsident Michel Aoun gesagt, wer mit der Führung des Landes nicht zufrieden sei, der könne auswandern. Daraufhin blockierten Protestierende die Straßen mit Müllcontainern und brennenden Autoreifen. Die Menschen sind vor allem wütend, weil die Politiker das Land heruntergewirtschaftet haben, gleichzeitig viele von ihnen als Milliardäre ein gutes Leben führen. Sie fordern das Geld zurück, das die Wirtschaftselite dem Land durch Korruption unter anderem im Elektrizitäts-, Kommunikations-, und Bausektor entzogen hat.

Kreativität statt Gewalt

Sara Safieddine nimmt in der Beiruter Innenstadt eine silberne Spraydose aus ihrer Handtasche und sprüht mit blauer Farbe an die Stellwand: „Dieser Platz gehört uns“. Dahinter steht ein verlassenes Theater. „Das Gebäude ist für die Leute, nicht für die Regierung, wir wollen Kunst darin sehen“, sagt sie wütend. „Wir jungen Menschen haben so viel zu sagen und wir Libanes*innen sind sehr kreativ. Kunst ist der einzige Weg, viele Menschen zu erreichen und der beste Weg, sich auszudrücken.“ Die libanesischen Proteste der vergangenen Tage waren dementsprechend laut und bunt. In der nördlichen Stadt Tripoli legte ein DJ auf, in Beirut zelten Aktivist*innen seit Wochen auf dem zentralen Märtyrerplatz in der Innenstadt; Kreative bemalen den Sockel der Statue für gefallene Märtyrer mit bunten Bildern und sprühen Wände in der auf Hochglanz sanierten Innenstadt an. Im Norden hängen sie Parteifahnen ab und ersetzen sie mit der libanesischen Flagge.

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Foto: Julia Neumann

„Unsere Eltern und Großeltern haben die Politiker gewählt und wir hatten kein Mitspracherecht. Es ist Zeit für einen Wandel“, sagt Dima Elayache. Sie ist 22 Jahre, studiert Architektur und schwänzt seit Tagen ihre Vorlesungen, um zu streiken. Sie steht vor den Toren der Amerikanischen Universität, nimmt das Handmikrofon eines Megafons in die Hand und brüllt hinein: „Wir sind die Revolution, ihr seid der Bürgerkrieg!“ Was Dima damit meint: Im libanesischen Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 bekämpften sich Milizen verschiedener konfessioneller Fraktionen. Nach dem Ende des Krieges sorgten die Milizführer mit einem Amnestiegesetz dafür, dass ihre Kriegsverbrechen unbestraft blieben. So konnten sie und ihre Familien weiter in der Politik mitmischen. Im Libanon leben unter anderem sunnitische und schiitische Muslime, maronitische Christen, Drusen und Orthodoxe. Statt einer Aussöhnung nutzten die Politiker diese Vielfalt aus, um Politik für ihr jeweiliges Klientel zu betreiben. Unter dem Vorwand, Minderheitenrechte zu wahren, und mit dem Drohszenario, eine ungleiche Machtverteilung könnte zu einem neuen Bürgerkrieg führen, sind die politischen Familien seit 30 Jahren an der Macht.

30 Jahre, das ist ein Generationsprung. Die Jugendlichen spielen deshalb eine so große Rolle bei den Protesten. „Unsere Eltern und Großeltern konnten diese Mauer der Angst, die die Politiker gebaut haben, nicht bezwingen können“, sagt Dima Elayache. „Aber wir Jugendlichen könnten wirklich etwas verändern im Land. Zum Beispiel wollen wir nicht mehr Teil des konfessionellen Systems sein.“ Als ersten Schritt fordern sie, das Wahlalter im Libanon von 21 Jahren auf 18 herabzusetzen.

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Foto: Julia Neumann

Vom Wählen ist der 16-Jährige Habib Tawk noch weit entfernt. Er trägt ein T-Shirt, darauf steht: „Es brauchte nur eine Socke, um Dobby Freiheit zu schenken“ – eine Anlehnung an den Elf Dobby, eine Figur aus Harry Potter*. Die Elfen leben als Sklaven bei ihren Meistern, bis sie ein Kleidungsstück als Zeichen der Freiheit bekommen. „Freiheit ist so simpel wie eine Socke“, sagt Tawk. Auf dem Riad el Solh, dem Platz vor dem Regierungsgebäude, protestiert Tawk gegen die Abhängigkeit der Menschen von den politischen Machthabern. „Ich bin verärgert darüber, dass die Politiker sagen, wir lebten in einer Demokratie. Aber die Demokratie wird nicht respektiert, unsere Stimmen werden nicht gehört.“ Im Libanon werde zwar gewählt, „aber die vielleicht 100 US-Dollar, die sie den Armen geben, bringen die Leute zum Wählen. Bestechung ist mehr als offensichtliche Praxis bei uns. Sie nehmen Geld aus unseren Taschen und geben uns vielleicht ein Fünftel davon zurück.“

Die Arbeitslosenrate liegt im Libanon bei den unter 25-Jährigen  bei 37 Prozent. An eine Stelle kommt oft nur, wer sogenanntes Wasta, Kontakte, hat. „Wir finden keine Jobs, unsere Währung wird abgewertet, unsere Politiker*innen stehlen Geld und haben Konten bei Schweizer Banken“, sagt Tawk. Als Beispiel nennt er den Ex-Ministerpräsidenten Fouad Siniora, unter dessen Führung von 2005 bis 2008 11 Milliarden US-Dollar öffentlicher Gelder verschwanden. Neben Tawk steht ein junger Mann und hält ein Plakat. Darauf ist ein blondes Model zu sehen, auf Arabisch steht darunter: „Wir wollen unsere 16 Millionen zurück.“ Ende September war bekannt geworden, dass der Ministerpräsident Saad Hariri im Jahr 2013 einem südafrikanischen Model 16 Millionen US-Dollar überwiesen hatte – angeblich als Geschenk für eine Liason, damit sie Grundstücke davon kaufen könne.

Hariris Vermögen wird von Forbes auf 1,5 Milliarden US-Dollar geschätzt. Er ist der Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri, der 2005 bei einem Bombenanschlag auf seinen Autokonvoi starb. Vater Hariri war ein Multimilliardär mit Yachten und Privatjets. Er gründete seinerzeit das Unternehmen Solidere, das den Stadtkern Beiruts komplett saniert, aufgemotzt und zu einem teuren Pflaster gemacht hat. Auch die Küste haben sie privatisiert und bebaut, zum Beispiel mit dem Yachthafen Zaytuna Bay.

„Die haben das Land günstig gekauft, und jetzt machen sie ordentlich Profit damit“

Auf diesem Privatgrundstück mit Premiumlage am Mittelmeer tanzt Marilyn Kalass auf einem Holzsteig zu Musik aus Lautsprecherboxen. Hinter ihr recken sich hohe Glastürme in den Himmel, neben ihr warten die Kellner*innen hochpreisiger Restaurants auf Kundschaft, auf der anderen Seite ruhen weiße Yachten auf dem Wasser. Ein paar Soldaten bewachen den Hafen und schauen auf die Gruppe junger Leute, die sich im Kreis versammelt haben. Die 20-jährige Studentin der Physik ist mit ihren Freund*innen gekommen, um bei einem friedlichen Treffen mit Musik gegen die Privatisierung zu protestieren. „Die haben das Land günstig gekauft, und jetzt machen sie ordentlich Profit damit. Aber rechtlich gesehen gehört dieses Grundstück uns. Es gibt keine legalen Dokumente für diesen Hafen. Hier sollte ein Strand für uns sein“, kritisiert sie. Die Studentin hatte eine Diskussion mit ihrem Vater. Er ist nicht bei den Protesten dabei, als  Geschäftsführer einer Filiale der Zentralbank kann er sich das nicht erlauben. „Er sagt, dass nicht alle Politiker Geld stehlen.“ Ihre Freund*innen sehen das anders. Sie rufen währenddessen: „Diebe! Alle sind Diebe!“

*Anm. d. Redaktion: In einer ersten Fassung des Textes stand, dass Dobby eine Figur aus Herr der Ringe sei. Er ist jedoch ein Charakter aus Harry Potter. Wir haben den Fehler korrigiert.

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