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Drei Generationen über Flucht und Heimat

Familie Muhaxheri: Sohn Petrit, Oma Zarife und Vater Gazmend.
Foto: Privat

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In dieser Kolumne geht es um ein Thema, das eine Familie verbindet. Drei Generationen – drei Perspektiven. Diesmal geht es um Migration und Flucht. 

Es antworten: 

Petrit Muhaxheri: 24 Jahre alt, wurde in Ludwigsburg geboren und studiert in Heidelberg Politikwissenschaft und Soziologie. Im Interview dolmetscht er für seine Oma Zarife aus dem Albanischen. Die Frage, wohin er gehört, war schon früh Teil seines Lebens. 

Gazmend Muhaxheri: 49 Jahre alt, geboren in Skopje. 1992, als er 18 Jahre alt war, reiste er vom Kosovo nach Deutschland. In Deutschland begann er, bei einer Baufirma zu arbeiten. Heute ist er Betriebsratsvorsitzender eines Unternehmens mit dreihundert Mitarbeiter:innen und lebt in der Nähe von Ludwigsburg. 

Zarife Muhaxheri: 67 Jahre alt, wurde in Kaçanik, im ehemaligen Jugoslawien, geboren. 1993 kam sie mit Schleppern aus dem Kosovo nach Deutschland. Sie floh mit zwei kleinen Kindern durch viele Länder. Drei Jahre nach ihrer Flucht erhielt sie in Deutschland Asyl. Heute lebt sie in Kornwestheim, wo sie als Putzkraft arbeitete. Mittlerweile ist sie in Rente. 

Was bedeutet „Heimat“ für dich? 

Petrit Muhaxheri: Wenn man einen Migrationshintergrund hat, ist man gezwungen, sich ständig mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich habe noch keine Antwort darauf gefunden, die sich für mich richtig anfühlt. Aber ich kann sagen, dass ich mehrere Heimaten habe: in Deutschland und im Kosovo. Ein Zuhause machen für mich aber vor allem die Menschen aus, die mir wichtig sind.

Gazmend Muhaxheri: Wenn ich an Heimat denke, kommen mir vor allem viele Situationen in den Kopf, in denen mich Menschen auf meine Herkunft reduzieren, oder zu mir sagen: Du bist doch gar nicht deutsch. Wenn ich in den Kosovo fahre, fühle ich mich dort zu Hause. Aber ich habe auch in Deutschland eine Heimat gefunden. 

Zarife Muhaxheri: Der Kosovo war meine erste Heimat, aber mittlerweile fühlt sich auch Deutschland nach einer Heimat an. Trotzdem bedeutet vor allem meine Familie Heimat für mich. 

Welche Herausforderungen erlebst du in Deutschland oder hast du erlebt? 

Petrit Muhaxheri: Ich bin in einer relativ kleinen Wohnung aufgewachsen, in der ich mit meinen Eltern, meinen zwei Geschwistern, meiner Tante, meinem Onkel und meinen Großeltern gewohnt habe. Zuhause haben wir vor allem Albanisch gesprochen, Deutsch musste ich mir im Kindergarten und der Grundschule selbst aneignen. Manchmal hatte ich dadurch das Gefühl, nicht so ganz dazuzugehören. Schon früh in meinem Leben habe ich mich gefragt, wohin ich gehöre.

Gazmend Muhaxheri: Ich musste mich an vieles hier erst mal gewöhnen. Zum Beispiel daran, wie man eine Steuererklärung macht, oder dass man beim Arzt anrufen und einen Termin ausmachen muss, statt einfach vorbeizugehen. In Deutschland gibt es andere Regeln, aber die habe ich gelernt. 

Zarife Muhaxheri: Am Anfang war vor allem die Sprachbarriere ein Problem für mich. Ich konnte nicht mit den Lehrern meiner Kinder sprechen und habe das Schulsystem nicht verstanden. 

Wie lebst du die Kultur aus dem Kosovo in Deutschland? 

Petrit Muhaxheri: Seit ich ausgezogen bin, treffe ich mich einmal pro Woche mit einer Freundin, die auch aus dem Kosovo kommt. Mit ihr spreche ich Albanisch und kann über Themen reden, die Menschen mit anderer Herkunft nicht verstehen würden. Wenn es um Familiäres oder persönliche Themen geht, muss ich ihr wenig erklären, da wir aus der gleichen Kultur kommen. Auch über Musik fühle ich mich mit dem Kosovo verbunden. Ich würde sagen, ich kenne die albanische Musikszene genauso gut wie die deutsche. 

Gazmend Muhaxheri: Die Sprache spielt für mich dabei eine große Rolle. Ich spreche mit meiner Frau nur Albanisch, mit meinen Kindern eine Mischung aus Deutsch und Albanisch. Außerdem freue ich mich immer sehr über albanisches Essen und teile das gerne mit anderen. 

Zarife Muhaxheri: Ich fühle mich mit meiner Kultur besonders über das Essen verbunden. Ich koche ausschließlich albanisch-kosovarisch. Jeden Sonntag backe ich Fli, das ist ein traditionelles albanisches Teig-Gericht. 

Wie geht es dir, wenn du Bilder aus dem Krieg in der Ukraine siehst?

Petrit Muhaxheri: Es ist schrecklich zu sehen, dass es Krieg gibt. Ich habe sehr viel Mitleid mit den Menschen, die von dem Krieg betroffen sind. Ich bin zwar in Deutschland geboren, aber zwei Monate nach meiner Geburt ist der Vater meiner Mutter auf der Flucht vor dem Kosovokrieg gestorben, weil er auf eine vergrabenen Miene getreten ist. Dass das heute immer noch passiert, schockiert mich. Wenn dann trotzdem in populistischen Diskursen ein Feindbild von Geflüchteten gezeichnet wird, macht mich das sehr wütend. 

Gazmend Muhaxheri: Es kommen viele Erinnerungen an den Krieg in Jugoslawien auf. Immerhin sind die Menschen aus der Ukraine schneller in einem Land, das zur EU gehört, als wir es damals waren. Was in der Ukraine geschieht, ist schrecklich, und wir müssen unsere Solidarität zeigen, zum Beispiel durch Spenden. 

Zarife Muhaxheri: Mir geht es schlecht, wenn ich die Bilder sehe. Es fühlt sich genauso an wie damals, als ich die Bilder aus dem Krieg im Kosovo gesehen habe. Die Menschen in der Ukraine, die um ihre Existenz fürchten müssen, tun mir sehr leid. 

Welche Szene fällt dir als Erstes ein, wenn du an Flucht und Migration denkst?

Gazmend Muhaxheri: Ich selbst konnte noch als Tourist in Deutschland einreisen. Trotzdem denke ich an Menschenhändler, die mit dem Schicksal anderer Geld verdienen wollen, an die Zäune an den Grenzen und an illegale Grenzüberquerungen. Diese Art der Flucht haben meine Mutter und meine Frau erlebt. 

Zarife Muhaxheri: Ich denke an meine eigene Flucht. Mit zwei kleinen Kindern zu fliehen, war schwer. Wir waren auf fremde Menschen angewiesen, die wir bezahlt haben, ohne zu wissen, was eigentlich das Ziel ist. Wir haben nur gehofft, dass sie uns an einen Ort bringen, an dem es besser ist als im Kosovo. 

Wie unterscheidet sich dein Leben von dem von Menschen ohne Migrationserfahrung?

Petrit Muhaxheri: Mich hat es sehr geprägt, mit zwei Sprachen aufzuwachsen. Ich habe schon immer aus verschiedenen Perspektiven denken müssen und bin in einem Zwiespalt zwischen unterschiedlichen Traditionen und Kulturen aufgewachsen. Das unterscheidet mich von Menschen ohne Migrationshintergrund. 

Gazmend Muhaxheri: Ich sehe wenige Unterschiede. Wenn jemand meinen Namen hört und fragt, woher ich komme, denke ich: Im Kosovo hätte ich einen Schröder oder einen Müller bestimmt auch gefragt, woher er kommt. Das sind ganz normale Fragen, die meinen Alltag heute nur noch wenig beeinflussen.

Zarife Muhaxheri: Am Anfang habe ich mich in Deutschland als Außenseiterin gefühlt. Nach der Flucht musste meine Tochter operiert werden, aber ich konnte die Ärzte nicht verstehen. Auch Arbeit zu finden, war am Anfang schwer. Abgesehen von der Sprachbarriere fühle ich mich heute so gut integriert, dass mein Migrationshintergrund im Alltag keine sehr große Rolle spielt.

Was magst du an Deutschland?

Petrit Muhaxheri: Dass Deutschland ein Sozialstaat ist.

Gazmend Muhaxheri: Die deutsche Solidarität und dass so viele Flüchtlinge aufgenommen werden. 

Zarife Muhaxheri: Das Gesundheitssystem. Wenn ich krank bin, muss ich mir keine Sorgen um eine medizinische Versorgung machen. Außerdem bin ich sehr dankbar, dass meine Kinder hier in die Schule gehen konnten und gute Bildung bekommen haben. 

Was stört dich an Deutschland?

Petrit Muhaxheri: Die deutsche Bürokratie ist so kompliziert, dass sie vielen Menschen Steine in den Weg legt. Außerdem habe ich das Gefühl, dass hier alles effizient sein muss. Ich würde mir wünschen, das Leben auch einfach mal mehr genießen zu können. 

Gazmend Muhaxheri: Viele meiner Dokumente sind hier nicht anerkannt worden, zum Beispiel mein Schulabschluss und mein Führerschein. Das finde ich sehr schade. 

Zarife Muhaxheri: Mich stört nichts. 

Wie fühlst du dich, wenn du den Kosovo besuchst?

Petrit Muhaxheri: Im Kosovo liegen meine Wurzeln. Wenn ich dort aus dem Flugzeug aussteige, riecht es anders, die Menschen begegnen mir anders, die Stimmung ist warmherzig. Ich habe oft ein Gefühl von Nostalgie, wenn ich im Kosovo bin. 

Gazmend Muhaxheri: Es ist schön für mich, im Kosovo zu sein. Trotzdem werde ich dort als Ausländer wahrgenommen, nicht als Einwohner. Das ist in Deutschland auch so.

Zarife Muhaxheri: Ich fühle mich bei meiner Familie, die noch im Kosovo ist, sehr willkommen. Trotzdem freue ich mich auch immer, wenn ich zurück nach Deutschland fahre. 

Vollende den Satz: Deutschland hat mich … 

Petrit Muhaxheri: … geprägt. Ich bin zwischen den Kulturen aufgewachsen und hier zu dem Menschen geworden, der ich bin. 

Gazmend Muhaxheri: … verändert. Ich bin viel ordentlicher und regeltreuer geworden. 

Zarife Muhaxheri: … selbständiger gemacht. Hier habe ich mein eigenes Geld verdient, im Kosovo wäre ich immer Hausfrau geblieben.

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