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„Ich bin mehr als nur mein Migrationshintergrund“

Weronika, Nil, Alina und Nairi.
Fotos: Privat

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Migrationshintergrund – ein Begriff, der sich im Wortsinn in Deutschland eingebürgert hat. Kurz gesagt liegt er dann vor, wenn eine Person nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde oder wenn dies bei mindestens einem Elternteil der Fall ist. Laut statistischem Bundesamt besitzt 27 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund, Tendenz steigend.

Hier erzählen vier Menschen davon, wie es ist, mit und manchmal auch zwischen unterschiedlichen Kulturen zu leben. Sie erzählen von Vor- und Nachteilen, Interkulturalität und Inklusion, Vorurteilen und Rassismus.

„Uns türkischen Migrant:innen wird weniger zugetraut, dass wir es bis zum Abitur schaffen“

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Foto: Privat

Nil, 23 Jahre alt, hat deutsche und türkische Wurzeln, sie studiert Jura und Politikwissenschaft

„Ich beschreibe meine Identität als ,Deutsch-Türkin‘. Ich bin eben beides, trage beide Kulturen in mir und fühle mich auch nicht zerrissen in meiner Identität. Weil es in meiner Heimatstadt Berlin so eine riesige türkische Community gibt, bin ich häufig mit meiner türkischen Seite konfrontiert. Zusätzlich fliegen wir mindestens einmal im Jahr in die Türkei.

In der Türkei falle ich eigentlich nicht als sonderlich anders auf. In Deutschland habe ich auch das ,Glück‘, dass man mir meinen Migrationshintergrund nicht wirklich ansieht. Hier sorgt mein türkischer Name eher für Probleme. In der Schule bin ich vielen Vorurteilen begegnet. Uns türkischen Migrant:innen wird zum Beispiel weniger zugetraut, dass wir es bis zum Abitur schaffen. Lehrer:innen und Mitschüler:innen waren außerdem oft von meiner guten Ausdrucksweise begeistert. Rassismus ist mir an dieser Stelle als Begriff vielleicht zu hart, für mich ist das Schubladendenken.  

Dennoch bin ich auch Rassismus begegnet, weniger in Berlin, mehr in meinem Studienort, einer Kleinstadt im Osten. Böse Blicke und Kommentare, ich hätte hier nichts zu suchen, gehörten dort zu meinem Alltag. Manchmal musste ich sogar eine Party verlassen. Doch solange ich als Frau nicht körperlich gefährdet bin, begegne ich solchen Erfahrungen immer konfrontativ – nicht um meinen Migrationshintergrund zu rechtfertigen, sondern, um zu sagen, wer ich bin. 

Ich finde es überholt, in getrennten Kulturen zu denken. Es ist schade, dass immer nach kulturellen Unterschieden gesucht wird, statt nach Gemeinsamkeiten. Ein Beispiel dafür ist die deutsche Staatsbürgerschaftspolitik. Wieso darf ich mich nur unter bestimmten Voraussetzungen für zwei Staatsbürgerschaften entscheiden? Das wäre so, als müsste ich mich für eine Identität entscheiden. Vielleicht sehe ich mich auch in zwei Ländern leben und arbeiten. Das nimmt vielen Menschen doch nur Möglichkeiten weg. Dabei können Menschen mit Migrationshintergrund so viel bieten, insbesondere durch ihre oft frühe Politisierung und ihre interkulturellen Fähigkeiten. Leider habe ich den Eindruck, dass diese Vorteile von der Gesellschaft eher gehemmt werden.“ 

„Manchmal besteht schon der Druck, sich anpassen zu müssen“

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Foto: Privat

Nairi, 22 Jahre alt, studiert Politikwissenschaft und Öffentliches Recht und ist Deutsch-Armenierin

„Ich fühle mich wenig hin- und hergerissen in meiner Identität, doch manchmal besteht schon der Druck, sich anpassen zu müssen, je nachdem, in welchem Kontext ich mich aufhalte. Besonders verspüre ich diesen Anpassungsdruck von meinen Eltern, da habe ich manchmal das Gefühl, vielleicht mehr ,armenisch‘ als ,deutsch‘ sein zu müssen. Ich glaube zum Beispiel, dass sie es schön fänden, wenn ich die Sprache besser sprechen würde, einen armenischen Freund hätte oder mehr den Kontakt zu Armenier:innen in meinem Alter suchen würde.

Was die deutsche Gesellschaft betrifft, habe ich das Gefühl, dass es egal ist, wie man sich verhält oder ob man hier geboren ist: Man kann nie wirklich ein Teil der Gesellschaft sein. Ich frage mich, wie wir uns integrieren sollen, wenn uns Deutsche erst gar nicht akzeptieren wollen. Aufgrund meines Namens und Aussehens werde ich häufig gefragt, woher ich komme oder warum ich denn so gut Deutsch spreche. Das nervt mich total, denn dabei wird einfach nicht akzeptiert, dass ich schließlich in Deutschland geboren bin und genauso gut deutsch sein kann. Trotzdem verstecke ich meine Nationalitäten nicht, vielmehr bin ich stolz darauf, Armenierin und Deutsche zu sein.

Den christlichen Glauben habe ich von meinen Eltern. Ich muss aber sagen, dass ich seit meinem Studium nicht mehr so ein starkes Verhältnis zu meiner Religion habe. Dass ich heute zum Beispiel seltener in die Kirche gehe, hat vor allem damit zu tun, dass es an meinem Studienort keine armenische Kirche gibt. Zusätzlich hat sich im Lauf der Zeit mein Fokus auch eher auf meine Ausbildung verschoben. Dennoch bleibt die christliche Religion ein Teil meiner armenischen Kultur. Zu bestimmten Anlässen wie Ostern und Weihnachten gehe ich gemeinsam mit meiner Familie in die Kirche.

Ich finde, dass deutsche Menschen oft traurig und weniger lebensfroh sind. Obwohl die wirtschaftliche und politische Lage in Armenien deutlich kritischer ist, behalten sich Armenier:innen ihre Lebensfreude bei. Auch die Gastfreundschaft ist in Deutschland leider wenig ausgeprägt. Trotzdem bin ich sehr froh, nicht in Armenien aufgewachsen zu sein, denn hier gibt es einfach die besseren Job- und Zukunftschancen. Das schätze ich sehr.

Ich wünsche mir in Deutschland mehr Offenheit gegenüber unterschiedlichen Kulturen und dass wir Menschen mit Migrationshintergrund genauso als Teil der Gesellschaft akzeptiert werden, unabhängig von unserer Nationalität.“

„Mit Polen verbinde ich meine Kindheit. Allerdings identifiziere ich mich kaum mit der polnischen Mentalität“

prookolle zwei nationalitaeten text weronika

Foto: Privat

Weronika, 24 Jahre alt, Lehramt-Studentin, ist in Polen aufgewachsen und lebt heute in Deutschland

„Da ich neben polnischen auch ukrainische und ungarische Wurzeln habe, sehe ich mich als multikulturell. Früher habe ich meine Identitäten klarer voneinander getrennt, doch seit ich erwachsen bin, vermischt sich das zunehmend. Zum Beispiel habe ich auch eine französische Identität, da ich während meines Studiums länger in Frankreich gelebt habe und das Land sehr liebe. Auch mein niederländischer Freund prägt mich in meiner Identität, insofern glaube ich, dass die eigene Identität unabhängig von den Kulturen der eigenen Eltern individuell und vielschichtig sein kann. Die Nationalität macht dann nur einen Aspekt davon aus. Und nur weil jemand einer bestimmten Nationalität angehört, muss die Person nicht all ihren Stereotypen entsprechen.

Am meisten Bezug habe ich zu Deutschland, es ist das Land, in dem ich wohne und studiere. Mit Polen verbinde ich meine Kindheit. Allerdings identifiziere ich mich kaum mit der polnischen Mentalität. Meine Eltern sagen oft, wir sind ,eingedeutscht‘. Wenn wir meine Familie in Polen besuchen, kann ich dort einige Themen nicht ansprechen, weil ich Angst davor habe, meine Großeltern zu kränken. Zum Beispiel sprechen wir so wenig wie möglich über meine Partnerschaft. Die polnische, oft konservativere, Erwartung ist es, mit Mitte 20 bereits verlobt oder verheiratet zu sein und am besten schon eigene Kinder zu haben. Zum Glück ist das in Deutschland nicht so üblich. Hier kann man eher sein eigenes Ding machen und das finde ich auch gut so. Mir ist es egal, wenn sich meine Familie in Polen vielleicht wundert, dass ich noch nicht mit meinem Freund zusammengezogen bin.

Eine Sache schätze ich an Polen aber sehr: Ich erlebe die deutsche Kultur als viel individualistischer als die polnische. Es geht in Deutschland hauptsächlich darum, dass man selbst glücklich wird. Polen ist im Vergleich dazu sehr ‚wir-bezogen‘, man denkt eher im Kollektiv: Man ist glücklich, wenn das Umfeld glücklich ist. Ich schätze dieses polnische Denken sehr. Allerdings führt es in Beziehungen mit deutschen Partnern leider oft zu Konflikten. Beispielsweise denke ich mehr im Team. Natürlich muss eine Beziehung immer gesund sein, aber ich würde nie eine Beziehung aufgeben, nur weil ich mich selbst gerade verloren fühle oder individuell wachsen möchte. Ich kann mich genauso gut in einer Beziehung weiterentwickeln und verwirklichen. Ich kann deswegen oft nicht nachvollziehen, wenn sich Paare aus diesem Grund trennen.“

„Mich anpassen zu müssen, fällt mir besonders in rassistischen Situationen schwer“

prookolle zwei nationalitaeten text alina

Foto: Privat

 

Alina, 23 Jahre alt, Jura-Studentin, hat deutsche und pakistanische Wurzeln

„Sich ab und zu hin- und hergerissen zu fühlen, ist etwas, was viele ,Mixed-Kids´ teilen, doch letztendlich prägen mich beide Kulturen. Dass ich trotzdem manchmal eine Seite unterdrücke, hängt mit den starken kulturellen Unterschieden zusammen. In Pakistan gehen die Menschen viel liebevoller und aufmerksamer miteinander um: Sie umarmen sich, erzählen sich, wie sehr sie sich lieben. In Deutschland kommt das eher als überschwänglich und unangenehm rüber. Generell ist die pakistanische Kultur viel mehr auf die Gemeinschaft ausgelegt, in Deutschland lebt man eher individualistisch. Das bedeutet zwar, dass in Pakistan eine besondere Verantwortung besteht, füreinander da zu sein. Doch auf der anderen Seite erlaubt eine individualistische Gesellschaft auch, über persönliche Themen wie mentale Gesundheit zu sprechen. 

Für mich ist nicht nur das pakistanische Essen identitätsstiftend, andere kulturelle Aspekte wie zum Beispiel die Sprache prägen mich ebenso. Doch viel mehr prägen mich meine Auslandserfahrungen, Freunde oder mein Studium. Schließlich bin ich mehr als nur mein Migrationshintergrund.

Mich anpassen zu müssen, fällt mir besonders in rassistischen Situationen schwer. Als ich angefangen habe, mit meinen Mädels in den Club zu gehen, fiel mir auf, dass ich länger kontrolliert wurde. Nicht, weil ich komisch drauf oder betrunken war – einfach weil ich ,anders´ aussehe. Einmal gab es den Vorwurf, ich hätte meinen Ausweis gefälscht, weil mein Name augenscheinlich nicht zu meinem Gesicht passte. Dass ich trotzdem reinkam, hat meiner Meinung nach eher etwas mit der Angst des Clubs zu tun, Rassismus vorgeworfen zu bekommen. Da verliere ich dann schon schnell meinen Glauben an die Menschheit. 

Ich wünsche mir von unserer Gesellschaft, dass wir Menschen mit Migrationshintergrund nicht das Gefühl bekommen, wir müssten uns für eine Identität entscheiden. Denn wir sind gerade so einzigartig, weil wir so sind, wie wir sind.“

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