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Tipps für Zivilcourage
Ein Freitagabend, 23 Uhr. Ein junger Mann sitzt in der Straßenbahn, er hat seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ein anderer Mann spricht ihn an, dann eskaliert die Situation: Er beschimpft den jungen Mann, beleidigt ihn rassistisch, spuckt ihn an, wird handgreiflich und zerstört sein Handy. Mitfahrende filmen den Vorfall, der sich genau so am 23. April 2021 in Erfurt ereignet hat. Das Opfer war ein junger Syrer, der Täter polizeibekannt. Das Handyvideo geht seitdem durch die sozialen Netzwerke. Eingegriffen hat niemand.
Was kann man tun, wenn man so einen Vorfall miterlebt? Und wie eingreifen und helfen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Das haben wir den Anti-Gewalt-Trainer Jens Mollenhauer gefragt. Er unterrichtet seit mehr als seit 30 Jahren Gewaltprävention und arbeitet ehrenamtlich für das Bundesnetzwerk für Zivilcourage.
Anti-Gewalt-Trainer Jens Mollenhauer unterrichtet seit über 30 Jahren Gewaltprävention und gibt im Interview Tipps, wie man Zivilcourage richtig leisten kann.
jetzt: Wenn ich am 23. April in Erfurt in der Straßenbahn gesessen hätte, in der sich der rassistische Angriff ereignet hat – wie hätte ich dem Opfer bestmöglich helfen können?
Jens Mollenhauer: Zunächst einmal ist es wichtig, hinzuschauen und nicht wegzuschauen. Ich muss mir einen Überblick über die Situation verschaffen und mir klarmachen, um was für eine Auseinandersetzung es sich da gerade handelt. Konkret in dieser Situation wäre meine Einschätzung: Es ist eine körperliche Auseinandersetzung, bei der mir selbst auch etwas passieren kann. Ich muss also überlegen: Wie kann ich dem Opfer helfen, ohne mich auch in Gefahr zu bringen? Da gibt es dann mehrere Möglichkeiten.
Welche sind das?
Ich sollte zuerst schauen, ob ich Hilfe durch Dritte bekommen kann. Es ist wichtig, dass andere Leute von der Situation mitbekommen, dann stehe ich nicht alleine als Helfer da. Dann kann ich den Angreifer mit Abstand ansprechen, um Ihn zum Aufhören aufzufordern. Es geht darum, sich erstmal mit der Stimme einzumischen. Laut werden. Anschließend kann man auch um Hilfe rufen und zum Beispiel den Straßenbahnfahrer oder die Straßenbahnfahrerin ansprechen und sie/ihn auf die Situation aufmerksam machen. Außerdem sollte ich die Polizei anrufen. Das kann ich natürlich auch heimlich tun. Ich kann den Notruf wählen und die Situation beschreiben oder das Telefon einfach mitlaufen lassen, ohne mit der Polizei direkt sprechen zu müssen.
„Die Priorität liegt darauf, das Opfer gefahrlos aus der Situation herauszubekommen“
Woher weiß ich denn, welche Handlungsweise die richtige für eine bestimmte Situation ist?
Was man tatsächlich leisten kann, hängt sehr von der eigenen Persönlichkeit ab. Wichtig ist es, sich Fragen zu stellen und auf sein Gefühl zu hören. Wer ist der oder die Angreifer? Was passiert da genau? Wie fühle ich mich gerade und vertraue ich mir genug, um mich in die Situation einzumischen? Gerade bei so einer körperlichen Auseinandersetzung ist es wichtig, sich selber im Blick zu haben. Ich will ja helfen und die Situation nicht noch weiter eskalieren. Die Priorität liegt darauf, das Opfer gefahrlos aus der Situation herauszubekommen. Theoretisch dürfte ich aber auch Gewalt gegen den Angreifer ausüben, wenn ich dazu in der Lage bin. Es handelt sich ja um eine Notfallsituation.
Ich bin eine junge Frau, 20 Jahre alt und fühle mich nicht sonderlich stark. Ich hätte Angst, in dieser Situation einzugreifen. Was könnte ich denn tun, um dem Opfer trotzdem zu helfen?
Hinschauen ist da der erste Schritt und sehr wichtig. Von Ihnen würde niemand erwarten, sich in den „Kampf“ einzumischen. Das würde keinem etwas bringen. Sie könnten aber zum Beispiel schauen, wie Sie die Situation mit Hilfe anderer gelöst bekommen. Andere Herumstehende ansprechen und sich mit ihnen zusammenschließen wäre zum Beispiel ein guter Ansatz. Wenn Sie allerdings alleine sind, können Sie ihre Stimme einsetzen. Sie können mit dem Opfer sprechen, sich um Ihn oder Sie kümmern und erste Hilfe leisten.
Man muss nicht als Held*in dazwischen springen
Was sind denn überhaupt meine gesetzlichen Verpflichtungen in solchen Situationen – muss ich helfen?
Wenn es einem möglich ist einzugreifen, dann ist man immer verpflichtet zu helfen, so steht es im Gesetz. Ich möchte das aber gar nicht nur am Recht festmachen, sondern viel mehr an der moralischen Vorstellung der Menschen. Oft sind leider die Reaktionen von Herumstehenden nicht sehr hilfreich. Sie behaupten hinterher, nichts gesehen zu haben oder haben aus Angst dem Opfer nicht geholfen. Das sind auch ganz verständliche Reaktionen auf eine so außergewöhnliche Situation. Man steht ja unter Schock. Aber man kann eigentlich immer etwas tun! Weggehen und Hilfe rufen ist auch eine Art von Hilfe. Man kann auch später als Zeug*in zur Verfügung stehen und während der Tat „nur“ genau beobachten was vor sich geht. Man muss nicht als Held*in dazwischen springen.
Gibt es ein paar grundlegende Tipps, die ich mir für solche Situationen merken kann?
Es gibt sechs Regeln, an denen man sich grob orientieren kann:
Ich organisiere Hilfe, zum Beispiel rufe ich den Notruf.
Ich helfe, ohne mich selber in Gefahr zu bringen.
Ich kümmere mich um das Opfer in Form von Erster Hilfe zum Beispiel.
Ich fordere aktiv und direkt andere Menschen zur Mithilfe auf.
Ich beobachte genau, merke mir die Situation.
Ich stehe später als Zeuge oder Zeugin zur Verfügung.
Man muss diese Regeln im Idealfall mit Leben füllen. Das heißt, ich muss sie üben. Ich muss wissen, wann wende ich was am besten an, um dem Opfer bestmöglich helfen zu können. Deswegen gibt es viele Vereine in Deutschland, die Menschen helfen zu lernen, wie man sich in solchen Situationen verhalten kann.
Sie setzen sich seit Jahren für Zivilcourage ein. Warum ist das ihrer Meinung nach so wichtig?
Wenn niemand mehr gegen Gewalt, egal ob physische oder verbale, vorgeht, wird Gewalt siegen – und das wäre schrecklich! Deswegen ist es so wichtig, den Mut zu haben, und das steckt ja auch schon im Wort Zivilcourage, für demokratische und moralische Werte einzustehen. Wenn niemand was gegen Gewalt tut, werden wir uns immer mehr an die Gewalt gewöhnen.