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„Die Unabhängigkeit ist zu einer Art Legende geworden“

Fotos: Privat, Collage: jetzt.de

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Der Duden definiert den Begriff Heimat so: „Das Land (...), in dem man (...) aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt“.

Während die Frage nach dem eigenen Heimatland für die meisten leicht zu beantworten ist, stellt sie die Kurden vor ein grundsätzliches Problem. Mit rund 30 Millionen Menschen sind sie weltweit das größte Volk ohne einen eigenen Staat. Der Großteil der Kurden lebt in der Türkei, dem Irak, dem Iran und in Syrien. Im Laufe der Geschichte sind sie immer wieder zum Spielball der Mächte im Nahen Osten geworden, der eigene Staat wurde mehr und mehr zum Mythos. Zwar verwalten die Kurden eigene Gebiete selbst, wie die Region Rojava in Syrien oder die Autonome Region Kurdistan im Nordirak, sind aber teilweise oder komplett der jeweiligen Zentralregierung unterstellt.

Ein unabhängiger Staat hingegen braucht unter anderem klar definierte Ländergrenzen und muss von der Internationalen Gemeinschaft als solcher anerkannt werden – das ist bei keinem der kurdischen Gebiete der Fall. In der Türkei, wo sich viele Kurden im Südosten des Landes angesiedelt haben, kommt es seit Jahren immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die unter anderem von der EU als Terrororganisation eingestuft wird. 

Im Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ in Syrien und dem Irak wurden die Kurden zu Verbündeten des Westens: Die Peschmerga, wie die Armee der Autonomen Region Kurdistans genannt wird, wurden von der Bundeswehr ausgebildet und mit Waffenlieferungen unterstützt. Immer wieder eroberten kurdischen Kämpfer vom IS besetzte Gebiete zurück.

Um einen eigenen Staat zu verwirklichen, hielt die Regionalregierung in der Autonomen Region Kurdistan im September ein Referendum ab. Mehr als 90 Prozent der Wähler stimmten für ein unabhängiges Kurdistan. Für viele Kurden sah das zunächst aus wie die Erfüllung eines lang gehegten Traums, doch Regierungen weltweit reagierten mit Ablehnung und Androhung von Sanktionen.  Es scheint, als wäre der kurdische Traum vom eigenen Staat wieder einmal in weite Ferne gerückt. 

Wie fühlt sich dieser ewige Kampf für die junge Generation der Kurden an? Welche Hoffnungen und Ängste haben sie? Fühlen sie sich vom Westen im Stich gelassen? Wir haben mit vier jungen Kurden aus verschiedenen Ländern gesprochen.

„Wir haben große Angst angefeindet oder als Terrorverdächtige verfolgt zu werden“

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Collage: jetzt.de

Firat (28) aus der Türkei

Firat ist in Antalya geboren, hat in Frankreich studiert und lebt nun wieder in der Türkei. Der Ingenieur möchte aus Angst vor Anfeindungen nicht auf einem Foto gezeigt werden. 

„Als Kurde in der Türkei zu leben, kann sehr hart sein. Meine Identität hat mein Leben schon immer beeinflusst. Meine Eltern wurden in den kurdischen Gebieten in der Südosttürkei geboren, ich jedoch in Antalya. Aus Sorge, ich könnte Schwierigkeiten bekommen, haben sie mir die kurdische Sprache gar nicht erst beigebracht, ich wuchs quasi als türkischer Junge auf. Heute lebe ich in Istanbul und obwohl das eine große, moderne Stadt ist, in der sehr viele Kurden leben, kann ich hier nicht offen kurdisch sein. Wie viele meiner kurdischen Freunde verheimliche auch ich meine wahre Identität. Wir Kurden haben uns daran gewöhnt, uns wie türkische junge Männer zu verhalten – es ist fast schon traurig, wie gut wir es können. Der Großteil meiner türkischen Bekannten weiß nicht, dass ich eigentlich Kurde bin. Hier im Westen der Türkei spricht niemand kurdisch, man würde sofort auffallen. Und das wollen wir auf keinen Fall, denn wir haben große Angst, angefeindet oder als Terrorverdächtige verfolgt zu werden. 

Zu Beginn von Erdogans Amtszeit sah es so aus, als würde die Türkei auf die Kurden zugehen. Damals hat sich Erdogan in manchen Dingen pro-kurdisch verhalten. Doch der Konflikt zwischen AKP-Regierung und den Kurden ist dann völlig eskaliert. Im Südosten der Türkei haben die Kurden versucht, Gebiete abzuschotten und selbst zu verwalten. Doch das endete ab 2015 in heftigen Kämpfen zwischen PKK und türkischem Militär, in Städten wie Sur oder Cizre starben viele unschuldige Menschen. Heutzutage ist es in diesen Orten wieder weitgehend friedlich, aber kein Kurde dort traut sich mehr, den Mund aufzumachen. Nachdem Erdoğan die Friedensverhandlungen für gescheitert erklärt hat, gehen die Kämpfe zwischen türkischem Militär und PKK in den Bergen weiter. Gewalt ist natürlich niemals eine Lösung, doch in der Türkei gibt es viele Kurden, die mit der PKK sympathisieren.

Die kurdische Frage müsste in meinen Augen demokratisch und friedlich gelöst werden, doch im Moment macht die türkische Regierung hier das genaue Gegenteil. Menschenrechte und demokratische Werte wurden im gesamten Land außer Kraft gesetzt. Die Opfer dieser Politik sind nun nicht mehr nur die Kurden, auch andere vermeintliche Gegenspieler der Regierung werden angefeindet und verhaftet. Erdoğan dominiert hier alles und führt sich auf wie ein Diktator. Viel schlimmer als im Moment kann es hier eigentlich nicht mehr werden. Der einzige Weg, das zu ändern, ist, dass wir in der Türkei gemeinsam für Menschenrechte und Demokratie einstehen – egal, ob wir Kurden oder Türken sind. Mit der AKP an der Spitze werden wir sicher nicht zusammenfinden, Erdoğan hat nach seiner Wiederwahl mehr Macht als je zuvor und kein Interesse an einer friedlichen Lösung. Aber ich glaube fest daran, dass eine neue Regierung uns Frieden bringen kann.“ 

„Bis wir diesen Staat bilden können, besteht noch viel Handlungsbedarf“

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Foto: Privat, Collage: jetzt.de

Sham (27) aus Deutschland

 

Sham hat ihren Master in „Nahost-Studien mit Wirtschaftswissenschaften“ abgeschlossen und ist gerade auf Jobsuche. Sie lebt in Nürnberg und arbeitet als freie Journalistin. 

 

„Als ich etwa neun Jahre alt war, bin ich zusammen mit meiner Familie aus Sulaimanija nach Nürnberg gekommen. Zu dieser Zeit bekriegten sich die Kurden untereinander und das irakische Regime drohte mit Angriffen. Meine Eltern wollten uns in Deutschland eine sichere Kindheit bieten. Ich bin vielleicht nicht die klassische Durchschnittskurdin, denn mein Politikstudium hat mich sehr dafür sensibilisiert, Nationalismus und politische Identitäten zu hinterfragen. Kurdin zu sein bedeutet für mich persönlich, meine Verwandten im Irak zu besuchen. Meine politische Seite ist daran interessiert, die dortigen Nachrichten zu verfolgen und als Kurdin hier in Deutschland selbst politisch aktiv zu werden. Ich bin Vorstandsmitglied einer kurdisch-deutschen Denkfabrik und schreibe den Newsletter „What happened last week“

 

In Deutschland werde ich selten darauf angesprochen, dass ich Kurdin bin. Ich erinnere mich aber gut an einen Vorfall während meiner Schulzeit: Auf dem verschneiten Schulhof habe ich damals die Umrisse des nordirakischen Kurdistans aufgezeichnet – um den anderen zu zeigen, wie das Land aussieht. Ein Mitschüler mit türkischen Wurzeln, den ich eigentlich mochte, hat dann gesagt: „Vergiss es! So etwas hat nie existiert und so etwas wird nie existieren.“ Dann hat er darauf uriniert. Das hat mich sehr schockiert.

 

Die Unabhängigkeit ist für die Kurden ein sehr emotionales Thema, das ist schon fast zu einer Art Legende geworden. Durch mein Studium sehe ich dies aber etwas differenzierter. Sicher, die Mehrheitsmeinung in Kurdistan, aber auch in der Diaspora lautet: „Wir brauchen unbedingt einen eigenen Staat.“ Dem stimme ich zwar zu, doch bis wir diesen Staat bilden können, besteht noch viel Handlungsbedarf. Die Kurden müssen weiter demokratische Grundwerte in der Gesellschaft verbreiten und ihre Institutionen stärken. 

 

Aber klar, viele Kurden haben nun, nach dem gescheiterten Referendum, das Gefühl, vom Westen im Stich gelassen worden zu sein. „Wir haben keine Freunde außer die Berge“ ist eine kurdische Redewendung. Aber aus politischer Sicht ist es eigentlich keine Überraschung, dass das Referendum nicht akzeptiert wurde: Die USA wollen beispielsweise, dass in der Region Stabilität herrscht. Wir Kurden können dies aber momentan noch nicht anbieten, ein gestärkter Irak kann das schon eher. 

 

Das Problem in Kurdistan ist, dass die Parteienlandschaft dort sehr starr ist. Dieselben Personen treiben seit langem dieselben alten Themen voran. Die Korruption ist sehr hoch, bestimme Ämter oder Jobs erhält nur, wer zu einer bestimmten Partei gehört. Somit hat die Parteizugehörigkeit für die Menschen dort nicht nur eine ideologische, sondern auch eine materielle Bedeutung. Eigentlich sind viele Kurden aber sehr demokratisch und liberal. Deshalb hoffe ich, dass sich nun mehr junge Menschen politisch in die Zukunft Kurdistans einbringen.“ 

 

„Kurdisch sein bedeutet für mich Identität“

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Foto: Privat, Collage: jetzt.de

Azad (27) aus Syrien

 

Azad ist in Qamischli in Nordosten Syriens aufgewachsen und hat in Damaskus „englische und amerikanische Literatur“ studiert. Seit 2015 lebt der Journalist in Erbil, dem Zentrum der Autonomen Region Kurdistans, und berichtet von dort für diverse arabische Zeitungen. 

 

„Kurdisch sein bedeutet für mich Identität – das ist meine Kultur, meine Sprache, mein Volk und mein Land. So wie sich Türken oder Deutsche über ihre Nationalität identifizieren, machen wir es eben auch. Das ist einer der Gründe, weshalb man uns einen unabhängigen Staat zugestehen sollte. Die Kurden hier sind schon immer von kolonialen Vorherrschaften oder Machtspielen betroffen, wir hätten uns einen eigenen Staat verdient. Wir sprechen eine Sprache, teilen eine Kultur und Geschichte, also sollten wir auch einen eigenen Staat haben, damit wir endlich mit anderen Nationen gleichgestellt wären. Ich selbst konnte beim Referendum im Irak nicht abstimmen, da ich aus Syrien komme. Ich hätte aber klar für Ja gestimmt.

 

Doch hier im Nahen Osten wollte fast kein Land das Referendum akzeptieren. Sie alle hatten Angst, der Irak könnte zu instabil werden. Außerdem befürchten die Nachbarländer, dass ein unabhängiges Kurdistan auch Einfluss auf die Kurden in deren Ländern haben könnte. Obwohl auch der Westen die Bestrebungen abgelehnt hat, fühle ich mich nicht betrogen. Die USA und Europa haben uns damals unterstützt, als Saddam Hussein regiert hat und nun auch im Kampf gegen den IS. Dass der Westen gegen das Referendum war, heißt nicht, dass er generell gegen die Kurden ist, sondern nur, dass er andere Pläne hat.

 

In Syrien hat sich die Lage der Kurden etwa ein Jahr nach Kriegsbeginn verändert: Vor 2012 war das Leben dort anstrengend, wir wurden vom syrischen Regime unterdrückt. Doch nun können die Kurden ihr Gebiet im Norden viel besser kontrollieren. Dort gibt es eigene Institutionen, viel soziales Engagement und eine gut funktionierende Selbstverwaltung. Ich wünsche mir, dass die Kurden durch Verhandlungen mit dem Assad-Regime, der Türkei und dem Iran ihre Autonomie dort weiter ausbauen können – den Kampf gegen den IS haben sie ja schließlich im Namen aller geführt. Ich hoffe aber auf die Unterstützung des Westens, falls es durch die Türkei oder den Iran zu Repressionen kommen sollte. Für Kurdistan im Irak erhoffe ich mir, dass die Regierung dort vernünftige, durchdachte Entscheidungen trifft und die wichtigen Themen der Menschen auf die politische Agenda setzt. Beiden Ländern würde mehr Dialog und friedliche Kompromissbereitschaft gut tun.“

„Meine Familie hat schon immer für kurdische Rechte gekämpft und viel dabei verloren“

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Biza (24) aus dem Irak

 

Biza ist im Nordirak geboren und in Schweden aufgewachsen. Als sie 16 Jahre alt war, ging sie jedoch wieder zurück nach Kurdistan. Mittlerweile arbeitet sie als politische Beraterin für die kurdische Regionalregierung in Erbil. Außerdem kümmert sie sich um Bedürftige und Geflüchtete, versorgt sie mit Essen, medizinischer Hilfe und Wohnraum.

 

„Meine Familie hat schon immer für kurdische Rechte gekämpft und viel dabei verloren – mein Großvater wurde vom ehemaligen irakischen Regime hingerichtet. Vor lauter Angst sind meine Eltern damals nach Schweden geflüchtet, wo ich mit Geschichten wie dieser aufgewachsen bin. Ich habe mich immer verpflichtet gefühlt, dem kurdischen Volk beizustehen, deshalb bin ich schließlich wieder zurück nach Erbil gekommen. Hier in Kurdistan möchte ich all das, was ich in Schweden über Demokratie und Menschenrechte gelernt habe, einbringen. 

 

Da ich sowohl die schwedische als auch die irakische Staatsbürgerschaft habe, durfte ich am Referendum teilnehmen. Ich habe Ja angekreuzt, auch wenn ich den Zeitpunkt der Abstimmung als zu früh empfunden habe. Aber ein unabhängiger Staat ist eben unser großer Traum, deshalb wollte ich diese Chance nicht verfliegen lassen. In erster Linie geht es mir bei der Unabhängigkeit aber darum, die Rechte der Kurden zu stärken, weniger um feste Ländergrenzen oder eine nationale Identität. Aber unsere Regierung hat sich verkalkuliert, kein Staat hat das Ergebnis akzeptiert. Wir wurden von den USA als Schutzschild im Kampf gegen den IS benutzt und dann einfach fallen gelassen. Das war eine sehr einseitige Hilfe. Nach dem Referendum wurde die kurdische Bevölkerung mit Sanktionen und Flugverboten kollektiv abgestraft. Unsere Regierung hat nie über die Konsequenzen nachgedacht, hat sich keine Partner gesucht oder sich etwas zusichern lassen. Das alles hat uns in Fragen der Unabhängigkeit um Jahre zurückgeworfen. 

 

Die meisten Kurden hier sehen sich nicht als Iraker, es gibt keine Verbindung zwischen uns. Dazu trägt auch die Zentralregierung im Irak bei, denn sie schafft politisch und wirtschaftlich ein Klima, das uns Kurden zeigt: Für euch ist hier kein Platz. Viele von uns waren aber auch noch nie in einem anderen Teil des Landes, denn dort ist es nicht sicher: Es gibt Terroranschläge und Entführungen, die Sicherheitslage ist einfach viel instabiler als hier in Kurdistan. 

 

Ich habe Angst davor, dass unsere Behörden hier in Kurdistan langsam die Kontrolle verlieren. Unsere Regierung ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie es beispielsweise nicht schafft, uns wirtschaftlich unabhängig zu machen. Als ich 2010 hierherkam, boomte die Wirtschaft und die gesamte Region blühte auf. Jetzt habe ich jeden Tag Kontakt zu Menschen, die das Land für immer verlassen wollen, weil sie hier keine Zukunft sehen – das bricht mir das Herz. Ich wünsche mir, dass die Politik hier durch mehr junge Menschen beeinflusst wird. Ich hoffe, dass wir hier irgendwann ein verlässliches System und eine starke Bevölkerung haben.“

 

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