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„Ich wünschte, der Prozess wäre zu einem Ergebnis gekommen“

Foto: Sascha Steinbach / Getty Images

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Am 24. Juli 2010 verloren auf der Loveparade in Duisburg 21 Menschen ihr Leben, mehr als 500 wurden verletzt, viele weitere traumatisiert. Aufgrund fehlerhafter Planung war der Eingangsbereich des Festivalgeländes maßlos überfüllt. Eine Massenpanik brach aus. Sieben Jahre nach der Katastrophe begann der Prozess gegen die Verantwortlichen. Er zog sich wegen verschiedener Sachverständigengutachten und der gigantischen Beweislage über drei Jahre. Nun wurde er eingestellt. Wegen des Coronavirus sei nicht absehbar, das Verfahren vor der Verjährung der Taten Ende Juli zum Abschluss zu bringen. Das lässt nicht nur die Angehörigen der Opfer erschüttert zurück. Auch unser Gastautor Torben Kassler ist entsetzt. Er hat die Loveparade damals besucht, wurde aber glücklicherweise nicht direkt zum Opfer.

Am 24. Juli 2010 hatte ich Glück. Denn ich war auf dem Gelände, feierte die Loveparade, als die Katastrophe passierte – und ich lebe heute noch. Ich hatte Glück, nicht mit tausenden Anderen auf der Eingangsrampe eingepfercht zu sein, auf der 21 Menschen durch den schieren Druck der Menschenmasse zu Tode getrampelt wurden, 21 junge Menschen aus der ganzen Welt, die nur zum Feiern hier waren und noch ihr ganzes Leben vor sich hatten. Ich hingegen bin mit einem Schrecken davongekommen.

Ich war damals 17, machte gerade mein Abi und wurde von einigen älteren Freunden in die Welt des Technos eingeführt. Wir hatten uns am Abend vorher bei einem Klassenkameraden getroffen, um ein bisschen vorzufeiern und morgens früh aus Dortmund loszufahren. Wir wollten überpünktlich da sein, um noch vor den großen Besucherströmen aufs Gelände zu kommen – um 12 Uhr aufs Gelände, bloß nichts verpassen . Es war mein erstes großes Technoevent, dementsprechend groß war meine Vorfreude, als wir vor noch geschlossenen Toren an der Rampe warteten. Ich verstand die Faszination Loveparade sofort. Überall gute Musik, gute Laune und überall viele, viele, bunte Menschen. Die Party konnte beginnen.

Er komme gerade vom Eingang, dort seien Menschen gestorben

Es muss so 18, vielleicht 19 Uhr gewesen sein, wir waren gerade auf dem Weg von einer Stage zur anderen, Wasser holen, als uns ein Mann ansprach. Ich kann nicht anders, als ihn als durchgetrampelt zu beschreiben. Seine Kleidung war zerrissen, er war staubbedeckt und hatte Schürfwunden an den Knien, Armen und im Gesicht. Trotzdem glaubten wir ihm nicht, was er erzählte: Er komme gerade vom Eingang, dort seien Menschen gestorben. Wir dachten, er hätte sich geprügelt oder sei irgendwo heruntergefallen, irgendein verwirrter Druffi halt. Wir waren zu jung, nicht nüchtern und wollten eigentlich einfach nur feiern. Wir konnten das, was er sagte nicht begreifen oder einordnen. Vielleicht wollten wir es einfach nicht wahrhaben. Wir gaben ihm unser Wasser und gingen zur Bühne – das Festival lief ja noch weiter, denn eine weitere Panik sollte verhindert werden, wie ich später aus den Medien erfuhr. 

Erst als später die Durchsage von der Bühne kam, dass die Party beendet sei, weil Leute zu Tode gekommen waren, dämmerte uns, dass der Mann nicht gelogen hatte. Aber so richtig realisierte ich es erst, als mich auf der Rückfahrt der Anruf meines Bruders erreichte. Auf dem Gelände war das ja nicht möglich, das Netz war maßlos überlastet. Ich konnte ihm und meiner Mutter erklären, dass alles gut und ich in Sicherheit sei, dass ich auf dem Weg nach Hause war. Das muss so gegen Mitternacht gewesen sein. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie die Stunden für sie waren, zwischen den ersten Nachrichten über Tote und diesem Anruf.

Ich habe Glück gehabt. Ich bin mit einem Schrecken davongekommen

Ich unterhielt mich einige Zeit später mit einem Freund, der auch dort war. Er war um 17 Uhr auf der Rampe, an der rechten Wand. Dort, wo die meisten der 16 direkt auf dem Gelände Verstorbenen durch den Druck der Menge zu Tode kamen. Er musste miterleben, wie Menschen um ihn herum starben. Wie erwachsene Männer nach ihren Müttern schrien. Wie Menschen sich den Schockwellen, die durch die Masse gingen, nicht mehr erwehren konnten und auf die Körper ihrer Freunde treten mussten. Er muss diese Bilder seither mit sich herumtragen. Ich nicht. Und auch die Richterinnen und Richter, die eigentlich über die Verantwortung für diese Katastrophe hätten entscheiden sollen, müssen es wohl nicht.

Sie müssen nicht wissen wie es sich anfühlt, an einem heißen Sommertag, in einer heißen Menschenmenge eingekeilt zu sein, unmöglich, sich oder den Leuten um sich zu helfen oder Gestürzte hochzuziehen. Ich muss nicht, wie andere Traumatisierte, ein Leben verbringen, in dem eine falsche Berührung, ein falsches Geräusch oder ein falscher Gedanke dieses Horrorszenario wieder vor dem inneren Auge aufleben lässt. Ich habe Glück gehabt. Ich bin mit einem Schrecken davongekommen. Und auch mein Freund hat „Glück“ gehabt. Er ist „nur“ mit den Bildern, wohl aber mit dem Leben davongekommen. Wir haben niemanden verloren, der jetzt zu einem Aktenzeichen mit dem Vermerk „wegen geringer Schuld eingestellt“ erklärt wurde. Die zuständigen Richter*innen auch nicht. Wir mussten nicht, wie die Eltern der damals 22-jährigen Clara Zapater Caminal, für den Prozess mehr als 30 Mal aus Spanien nach Deutschland fliegen, um für Gerechtigkeit für das Leben ihrer Tochter zu kämpfen.

Aber wenn man sagt, die Menschen, die sich dort auf der Rampe befunden haben, hätten „einfach nur Pech“ gehabt, macht man es sich zu leicht. Denn dass dieses Risiko bestand, dass genau diese Rampe zur Todesfalle werden konnte, war bekannt. Sie war, laut Recherchen des Journalisten Lothar Evers, auch einfach nicht für die Menge an Besuchern ausgelegt, vor allem nicht ohne räumliche Trennung der Auf- und Abgänge. Nicht einmal das Festivalgelände war für die erwartete Menge an Gästen ausgelegt. Und die Verantwortlichen bei der Stadt Duisburg und dem Veranstalter Lopavent wussten dies im Vorhinein. Eine solche Überbelastung des Geländes war also schon beim Zeitpunkt der Genehmigung des Festivals vorhersehbar. 

21 Menschenleben für ein leeres Versprechen von Prestige und Profit

Auch das Sicherheitskonzept, das die Firma vorlegte, wurde noch wenige Tage vor der Veranstaltung von einem Sachverständigem als unzureichend zurückgewiesen. Trotz all dem fand die Veranstaltung als umzäunte Veranstaltung statt, da sonst die Stadt Duisburg die Kosten für Sicherheit und Reinigung hätte übernehmen müssen. Der Grund übrigens, aus dem sich Bochum im Vorjahr dagegen entschieden hatte, die Loveparade auszurichten. 21 Menschenleben für ein leeres Versprechen von Prestige und Profit.

Aber mit der Katastrophe vom 24. Juli 2010 begann die Tortur erst für die Angehörigen der Opfer. Während sie die Nachricht über den Tod ihrer Liebsten erhielten, gab der ehemalige Oberbürgermeister Adolf Sauerland in einer Pressekonferenz am Abend der Loveparade den Opfern noch die Schuld. Und auch wenn 2014 Anklage gegen zehn Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung sowie des Eventveranstalters erhoben wurde, mussten sie erst noch drei weitere Jahre warten, bis der Gerichtsprozess überhaupt begann. Nicht unter den Angeklagten waren Oberbürgermeister Sauerland oder der Lopavent-Chef Rainer Schaller. Beide wussten von den Gefahren, sie wurden jedoch lediglich als Zeugen geladen. Das war, zum Beispiel, ein Grund dafür, dass mein Freund, der auf der Rampe war, den Prozess gar nicht erst verfolgte: Hier ging es, so erschien es ihm, weder um Gerechtigkeit, noch um eine lückenlose Aufklärung, geschweige denn um eine Entschädigung der Opfer und Hinterbliebenen.

Eine Suche nach Gerechtigkeit sieht für mich anders aus

Ein Eindruck, der sich mir auch im kompletten Verlauf des Verfahrens und in seiner jetzigen Einstellung widerspiegelt. Bei einer zehnjährigen Verjährungsfrist vier Jahre mit der Anklageerhebung zu warten, das Verfahren danach wegen inhaltlicher Mängel in einem Sachverständigengutachten abzubrechen und es erst nach einer Online-Petition sowie Beschwerden seitens der Anklage im Frühjahr 2017 wieder aufzunehmen und es jetzt wegen der Corona-Krise und „geringer Aussichten auf rechtzeitigen Abschluss” einzustellen, all das mag korrektes juristisches Vorgehen sein. Eine Suche nach Gerechtigkeit oder der Versuch, den Angehörigen einen Abschluss zu ermöglichen, sieht für mich anders aus. Aber wer bin ich, das zu sagen. Ich habe weder das juristische Wissen, noch die juristischen Befugnisse, um diese Katastrophe zu be- oder vermeintliche Schuldige zu verurteilen. Aber dass Anwält*innen und Richter*innen, die genau diese Kompetenzen und Kenntnisse haben, zu dem Ergebnis kommen, den Prozess ohne Urteil abzubrechen, lässt mich vor allem enttäuscht zurück. Enttäuscht, dass unser Rechtssystem nicht in der Lage ist, mit so einem Ereignis umzugehen, aber vor allem enttäuscht, dass die Hinterbliebenen jetzt mit ihrer Trauer und Wut alleine stehen gelassen werden.

Ich wünschte, der Prozess wäre zu einem Ergebnis gekommen – nicht um der Bestrafung der Schuldigen willen, sondern um den Angehörigen der Verstorbenen zu Gerechtigkeit zu verhelfen, um ihnen zu ermöglichen, einen Abschluss zu finden oder wenigstens einen finanziellen Ausgleich, nicht für ein gestorbenes Kind, denn das ist nicht möglich, aber wenigstens für die Gerichtskosten. Claras Vater, Paco Zapater, sagte in einem Interview, das Prozessende fühle sich an, als wäre ihre Tochter ein zweites Mal gestorben. Ich wünschte, ihre Tochter wäre nicht gestorben – kein erstes und erst recht kein zweites Mal. 

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