Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Vielen Opfern wurde von einer Anzeige abgeraten“

Foto: jortgies / photocase.de; Bearbeitung: jetzt

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Laila Abdul-Rahman, 28, und Hannah Espín Grau, 26, sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für Kriminologie der Ruhr-Universität Bochum, wo derzeit das DFG-geförderte Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ läuft. Vergangene Woche hat das Team um den Kriminologen Tobias Singelnstein einen Zwischenbericht veröffentlicht: Aus einer Online-Befragung von Opfern polizeilicher Gewalt konnten mehr als 3300 Berichte ausgewertet werden. Die Betroffenen schildern darin unter anderem ihre Gewalterfahrungen, die physischen und psychischen Folgen, ob sie Anzeige erstattet haben und ob es zu einem Strafverfahren kam. 

Laila und Hannah haben mit uns darüber gesprochen, welche Menschen am häufigsten Opfer von Polizeigewalt werden, warum die Studie nicht repräsentativ sein kann, aber trotzdem wichtige Ergebnisse erbracht hat, und was sich ihrer Meinung nach im Verhältnis von Polizei und Bevölkerung ändern muss.

jetzt: Was ist das Ziel eurer Studie?

Hannah Espín Grau: Es gibt im deutschsprachigen Raum sehr wenig Forschung zum Thema Polizeigewalt. Wir wollen darum überhaupt erstmal Erfahrungen mit übermäßiger Polizeigewalt sammeln und uns anschließend die Eskalationsverläufe anschauen: Was sind die Trigger, durch die eine Situation eskalieren kann? Ein weiterer Punkt ist, dass es im Bereich „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ im Vergleich zu anderen Delikten wenige Anzeigen gibt und auch viel mehr Verfahren eingestellt werden. Deswegen ist es wichtig, das Dunkelfeld zu beleuchten, um abschätzen zu können, wie groß es ist, und vielleicht erklären zu können, warum die Zahl der bekannten Fälle so klein ist. 

Ein Ergebnis eurer Befragung ist, dass Opfer von Polizeigewalt mehrheitlich männlich und im Durchschnitt 26 Jahre alt sind. Das ist wenig überraschend, oder?

Laila Abdul-Rahman: Ja, junge Männer werden generell häufiger Opfer von Gewalt und sind parallel dazu auch häufiger Täter. 

„Gewalt durch die Polizei ist ein Problem in Deutschland, aber nicht in allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen“

71 Prozent der Betroffenen in eurer Studie haben einen hohen Bildungsabschluss und nur drei Prozent der Betroffenen waren keine deutschen Staatsbürger*innen. Wie erklärt ihr euch das?

Laila: Das liegt zum Teil sicher daran, dass Personen mit höherem Bildungsabschluss eher bereit sind, an einer so umfangreichen Befragung teilzunehmen. Außerdem sind mehr als die Hälfte der Befragten bei Demonstrationen in Kontakt mit der Polizei gekommen, bei denen der Anteil an Schüler*innen und Student*innen sehr hoch ist. Was den Ausländer*innenanteil angeht: In der offiziellen polizeilichen Kriminalstatistik 2018 haben 27 Prozent der Personen, die Opfer von Körperverletzung durch Polizeibeamt*innen geworden sind oder wo zumindest der Verdacht bestand, keine deutsche Staatsangehörigkeit. In dem Bereich hat die Rekrutierung von Teilnehmer*innen bei uns anscheinend nicht gut genug funktioniert.

polizei gewalt portraits

Laila Abdul-Rahman (l.) hat Kriminologie und Jura studiert, Hannah Espín Grau ebenfalls Jura und Politikwissenschaften.

Foto: privat; Bearbeitung: jetzt

Ihr betont in eurem Zwischenbericht immer wieder, dass die Ergebnisse nicht repräsentativ sind. Inwiefern nicht? Und warum könnt ihr trotzdem damit arbeiten?

Laila: Eine Befragung ist dann repräsentativ, wenn sie genau die Merkmale der Bevölkerung abbildet. Dafür hätten wir die Befragten zufällig auswählen müssen. Das Problem ist aber, dass die Häufigkeit des Phänomens relativ gering ist: Gewalt durch die Polizei ist ein Problem in Deutschland, aber es ist eben nicht sehr weit verbreitet und vor allem nicht in allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen. Wir wollten also erstmal überhaupt Opfer von Polizeigewalt finden, aber die stehen ja nicht in irgendeiner Liste. Darum haben wir uns dafür entschieden, mit einem öffentlichen Aufruf zu arbeiten und so Teilnehmer*innen für die Befragung zu rekrutieren.

Hannah: Dafür hatten wir Flyer auf Englisch, Deutsch, Französisch und Arabisch, die wir online gestreut haben. Außerdem haben wir mit „Gatekeeper*innen“ zusammengearbeitet, also Menschen, die am ehesten mit Personen in Kontakt sind, die wir sonst nicht erreicht hätten, zum Beispiel über Wohnungslosen-Unterkünfte und Flüchtlingsräte.

Gewalt durch Polizist*innen kann auch provoziert werden. Habt ihr danach gefragt, wie sich die Betroffenen selbst verhalten haben? 

Laila: Ja, wir haben versucht, die Interaktion relativ detailliert abzufragen. 

Hannah: Wir haben auch eine Bereinigung durchgeführt. Zum Beispiel wurden Fragebögen aussortiert, auf denen die Teilnehmer*innen nur Extremwerte angegeben haben – also etwa „Die Polizei hat alles falsch gemacht und bei mir war alles perfekt“ – und sich noch dazu sehr schnell durchgeklickt haben. 

Laila: Das ist aber nicht sehr häufig vorgekommen.

„Es kommt in allen Situationen vor, dass jemand zur Seite gestoßen, festgehalten oder geschlagen wird“

Die Polizei darf unter bestimmten Voraussetzungen Gewalt anwenden. Wie habt ihr sichergestellt, dass die Teilnehmer*innen richtig beurteilen konnten, ob die Gewalt rechtmäßig war oder nicht?

Laila: Es ging um die Einschätzungen der Befragten und wir können innerhalb einer sozialwissenschaftlichen Forschung nicht ermitteln, ob das alles genau so passiert ist. Aber es ist wichtig, sich die geschilderten Fälle genau anzuschauen und nicht einfach davon auszugehen, dass die betroffenen Personen das nicht beurteilen können. Wir haben außerdem immer wieder mit erklärenden Texten auf den Unterschied zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger beziehungsweise unverhältnismäßiger Gewalt hingewiesen.

Was wäre ein Beispiel für „unverhältnismäßige Gewalt“?

Hannah: Das kann man pauschal nicht sagen, dafür muss man sich immer den Einzelfall anschauen. Wenn zum Beispiel eine Maßnahme erfolgreich durchgeführt und die betreffende Person gefesselt und an einen anderen Ort gerbracht worden ist, dann ist sehr fraglich, ob es notwendig ist, ihr auch noch eine Backpfeife zu verpassen. 

Ihr habt die Vorfälle danach unterteilt, in welchem Rahmen sie passiert sind: bei Demonstrationen und politischen Aktionen, beim Fußball und anderen Großveranstaltungen und außerhalb von Großveranstaltungen. Worin unterscheiden sich diese Gruppen?

Laila: Zum Beispiel in der Demografie: Im Fußball sind ganz überwiegend Männer ohne Migrationshintergrund betroffen, bei Einsätzen außerhalb von Großveranstaltungen ist die Gruppe der Betroffenen am heterogensten.

Welche Arten von Gewalt wurden eingesetzt?

Laila: Es kommt in allen Situationen vor, dass jemand zur Seite gestoßen, festgehalten oder geschlagen wird. Einsatzmittel, die viele Personen treffen sollen, wie Wasserwerfer oder Reizgas, sind natürlich bei Demonstrationen viel häufiger. Zehn Prozent sagen, sie wurden gewürgt, teilweise kam es dabei zu Kehlkopf-Quetschungen. Was keine große Rolle spielt, ist der Einsatz von Schusswaffen. Auch Taser oder „Distanz-Elektroimpulswaffe“ wurden kaum verwendet, aber die gibt es bisher auch noch nicht in allen Bundesländern.

„Es kam häufig vor, dass jemand nach dem Vorfall Angst oder Unwohlsein beim Anblick der Polizei empfindet“

Bei den Einsätzen außerhalb von Großveranstaltungen kamen die meisten schweren Verletzungen vor. Blutergüsse oder offene Wunden waren häufiger als bei den anderen beiden Gruppen. 

Laila: Ja, knapp ein Viertel hatte schwere Verletzungen. Was man aber beachten muss: Das sind relative Zahlen, keine absoluten. Wir hatten insgesamt viel mehr Betroffene, denen auf Demonstrationen etwas passiert ist, von denen viele aber zum Beispiel auch nur geschubst wurden. Bei den Betroffenen außerhalb von Großveranstaltungen waren vor allem auch die psychischen Folgen schwerer.

Warum?

Hannah: Ich denke, wenn man sich in bestimmten Kontexten bewegt, etwa einer politischen Gruppe, wird eher darüber gesprochen, dass so etwas passieren kann. Wenn man aber weder in einer Gruppe organisiert ist, noch sich ansonsten mit Polizeigewalt auseinandersetzt, ist die Erfahrung vielleicht noch sehr viel eindrücklicher.

Eine psychische Folge war zum Beispiel Misstrauen gegenüber der Polizei.

Laila: Es kam häufig vor, dass jemand nach dem Vorfall Angst oder Unwohlsein beim Anblick der Polizei empfindet. Oft wurde auch eine höhere Wachsamkeit oder ein Vermeidungsverhalten genannt. 

Hannah: Zwischen 15 und 25 Prozent der Befragten haben außerdem Schlafstörungen, größere Reizbarkeit, Freudlosigkeit und Aufmerksamkeitsstörungen angegeben. 20 Prozent sagten, sie hätten keine Veränderungen bemerkt. 

Nur neun Prozent der Befragten haben Anzeige erstattet. Warum haben sie sich dafür entschieden?

Hannah: Für die meisten war die Motivation, dass so etwas nicht wieder passieren oder der Täter oder die Täterin zur Rechenschaft gezogen werden soll. Kaum jemand hat Anzeige erstattet, um Schmerzensgeld zu bekommen. 

„In Deutschland wird davon ausgegangen, dass die Polizei sich rechtmäßig verhält – und dass jemand, der etwas anderes behauptet, nicht die Wahrheit sagt“

Und warum haben so viele keine Anzeige erstattet?

Hannah: Hauptsächlich, weil sie davon ausgegangen sind, dass eine Anzeige keine Folgen hat und das Verfahren sowieso eingestellt wird. Oder weil sie davon ausgingen die Tat nicht beweisen zu können. Viele befürchteten auch, dass sie eine Gegenanzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte bekommen.

Laila: Vielen Opfern wurde auch von einer Anzeige abgeraten, von Freund*innen, Bekannten, der Familie oder von Rechtsanwält*innen. Weil die Erfolgsaussichten so gering sind. Unsere Stichprobe liefert also Hinweise, dass die Anzeigebereitschaft im Bereich Polizeigewalt sehr gering ist. Wir schätzen, dass das reale Dunkelfeld ähnlich groß ist wie in unserer Studie und es insgesamt etwa fünfmal so viele Fälle gibt, wie bekannt ist. 

Wenn es zu einem Strafverfahren kam, wurde es meistens eingestellt. Warum? 

Hannah: Die Einstellungsquote liegt bei 93 Prozent. Meistens, weil die Staatsanwaltschaft davon ausging, es bestehe kein hinreichender Tatverdacht. Insgesamt haben bei unserer Befragung aber mehr Personen teilgenommen, bei denen das Verfahren zur Anklage gekommen ist, als in der offiziellen Statistik.

Laila: Da liegt die Einstellungsquote sogar bei 98 Prozent. 

Wie kann man dem entgegenwirken?

Laila: Die Menschen müssten das Gefühl haben, dass die Polizei stärker kontrolliert wird. Und wenn das der Fall wäre, würden Polizist*innen sicher auch generell weniger oft Grenzen übertreten.

Hannah: Es wäre auch gut, wenn Betroffenen erstmal Vertrauen entgegengebracht würde. In Bezug auf unsere Studie kam immer wieder die Frage, ob das denn überhaupt so stimmt, was die Betroffenen berichten. Bei Berichten über Gewalt gegen Polizeibeamt*innen ist das Misstrauen geringer. Ich glaube, in Deutschland wird eher davon ausgegangen, dass die Polizei sich immer rechtmäßig verhält – und dass jemand, der etwas anderes behauptet, nicht die Wahrheit sagt. 

Laila: Oft gibt es eine Lagerbildung: Die einen sagen „Es gibt keine rechtswidrige Polizeigewalt“ und die anderen „Die ganze Polizei verhält sich nicht rechtsstaatlich“. Wir sind der Meinung: Es gibt Fälle von rechtswidriger Polizeigewalt und das sind nicht nur Einzelfälle, sondern es gibt strukturelle Probleme, die angegangen werden müssen – was aber nicht bedeutet, dass die gesamte deutsche Polizei ein Rechtsstaatsproblem hat.

Dieser Text wurde das erste Mal am 26.09.2019 veröffentlicht und am 29.05.2020 aktualisiert.

  • teilen
  • schließen