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Vereint in der Wut auf die Politiker*innen im Libanon

Foto: Joseph Eid / AFP

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Am 4. August um 18.08 Uhr detonierten 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut. Über 150 Menschen starben, 5000 wurden verletzt, rund 250 000 verloren innerhalb von Sekunden ihr Zuhause. Die Druckwelle der Explosion zerschlug Fensterscheiben, riss Türen aus den Angeln und Balkone zu Boden; Stühle, Bilderrahmen, Blumentöpfe schleuderten auf die Straße; in den Häusern liegen Türen auf Betten, Fensterläden stapeln sich mit Brettern, Wandgestein, Klamotten und Habseligkeiten. Betroffen sind ärmere Gegenden wie das armenische Viertel und Wohnhäuser direkt neben dem Hafen, aber auch gentrifizierte Gegenden, bekannt für alte Villen, hippe Bars und schicke Restaurants. Die libanesische Führung soll schon seit Juli von der Gefahr wissen, die von dem im Hafen eingelagerten Ammoniumnitrat ausging.

Bereits vor der Katastrophe litten die Menschen unter der Corona-Pandemie, einer Finanz- und Wirtschaftskrise. Tausende Menschen wurden arbeitslos, das libanesische Pfund hat rund 80 Prozent seines Wertes verloren. Der Libanon ist auf teure Importe von Benzin, Medizin und Weizen angewiesen, viele Menschen konnten sich die Dinge des alltäglichen Lebens nicht mehr leisten. Die Ursache dieser Probleme sahen vor allem die jungen Libanes*innen in ihrer korrupten Regierung. Deshalb gingen sie bereits Ende vergangenen Jahres bis kurz vor Beginn der Corona-Pandemie auf die Straßen, um gegen die politische Elite zu protestieren.

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Mit gebastelten Galgen protestierten Libanes*innen für den Rücktritt der Regierung.

Foto: Julia Neumann

In den Tagen nach der Explosion sind wieder viele Menschen auf den Straßen: Morgens fangen sie an, die Häuser von Schutt und Asche zu befreien, am Abend ziehen sie mit Plakaten und gebastelten Galgen auf den zentralen Märtyrerplatz, um dort den Sturz der Politiker*innen und Niedergang der politischen Elite zu fordern. Die Regierung gab am Montag ihren Rücktritt bekannt.

„Ich liebe dieses Land, aber es gibt hier keine Hoffnung“

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Foto: Julia Neumann

Shana Khodari, 20, studiert Betriebsmanagement in Montreal und ist zu Besuch bei ihrer Familie im Libanon

„Die Situation ist an ihrem Tiefpunkt: Wir haben unsere Häuser, unsere Autos, unsere Familien, unsere Freunde verloren. Wir sind so traurig. Meine Familie lebt in Aschrafieh, viele in meiner Familie sind verletzt, Eltern meiner Freunde sind gestorben. Mar Mikhael und Gemmayzeh sind wirklich das Herz Beiruts: Wir gehen hier sonst in die Bars, Restaurants oder Clubs – und nun ist alles zusammengefallen. Deshalb sind wir auf die Straßen gekommen, um den Älteren Essen zu bringen und zu helfen, neue Unterkünfte zu finden. Wir sind zum Beispiel zum Supermarkt gegangen und haben einer älteren Frau Aufschnitt gebracht. Das Wichtigste ist jetzt, den Älteren zu helfen. Wir sind die nächste Generation, deshalb ist es unsere Pflicht zu helfen. Denn der Libanon sollte unsere Zukunft sein, nicht ihre.

Ich lebe und studiere seit zwei Jahren in Montreal und bin eigentlich nur zum Urlaub hergekommen. Es ist recht normal, dass Menschen ins Ausland gehen, besonders in meinem Alter. Wir leben für eine Zeit in Frankreich, Deutschland, Italien, überall auf der Welt. Die meisten hatten vor, zurückzukommen und im Libanon zu arbeiten. Aber ich glaube, jetzt werden alle den Libanon verlassen, weil wir keine andere Wahl haben. Auch ich fühle mich gezwungen, in Montreal leben zu bleiben. Ich habe auch meine Eltern versucht zu überreden, mit mir nach Montreal zu ziehen. Sie möchten es aber nicht, weil sie sich im Libanon zu Hause fühlen. Auch ich liebe dieses Land, aber es gibt hier keine Hoffnung. Durch die politische und ökonomische Krise sind wir alle gezwungen, zu gehen.“

„Wir haben viel Durchhaltevermögen. Das haben wir von unseren Eltern gelernt“

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Foto: Julia Neumann

Joelle Jabbour, 22, hat dieses Jahr ihren Bachelor in Pharmazeutik abgeschlossen

„Mein Lieblings-Sandwichrestaurant wurde zerstört. Ich habe dort gefragt, ob wir helfen können und dann haben wir eine Menschenkette gebildet, um Küchentücher, Strohhalme, das gesamte Lager, auszuräumen. Wir helfen jeden Tag von 10 Uhr morgens bis abends um 6 Uhr. Ich bin in der Nachbarschaft aufgewachsen, viele meiner Kindheitserinnerungen sind an diesen Ort gebunden, der jetzt zerstört ist. Das Zuhause, in dem ich aufgewachsen bin, ist ebenfalls komplett zerstört, vieles kann nicht wieder repariert werden, weil es ein altes Gebäude war. Durch die Explosion sind die Fenster zerborsten, Fensterläden eingebrochen, die Wände sind eingestürzt, Computer beschädigt. Zum Glück war niemand in dem Gebäude.

Wir alle lieben unser Land. Das Mindeste, das wir tun können, ist es jetzt wiederaufzubauen. Und mit der Solidarität aller können wir es schaffen. Wir haben viel Durchhaltevermögen. Das haben wir von unseren Eltern gelernt, die den Bürgerkrieg (1975-1990, Anm. d. Red.) durchlebt haben. Daheim zu sitzen und nichts zu tun, ist einfach keine Option.

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Besonders junge Menschen gehen nach der Katastrophe in Beirut gegen die Regierung auf die Straße.

Foto: Julia Neumann

An Politik habe ich nicht wirklich ein Interesse, aber den Rücktritt der Regierung sehe ich als einen wichtigen Schritt nach vorne für den Libanon. Jetzt ist es unsere Rolle und unsere Pflicht, den Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen: Wir sollten nicht dieselben Politiker wieder wählen. Wenn dieselben Leute in den nächsten Wochen wieder an die Macht kommen, dann wären all die Proteste umsonst gewesen. Wir sollten wirklich darauf bestehen, neue Leute zu wählen, die noch nicht in der Regierung waren. Die Jugend spielt dabei eine große Rolle. Seit 30 Jahren hat dieselbe Generation den Libanon regiert. Ich habe die Hoffnung, dass junge Leute und eine unabhängige Regierung gewählt werden können.“

„Die Regierung ist komplett abwesend“

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Foto: Julia Neumann

Hazem Moughraby, 20, Aktivist, studiert Zahnlabortechnik

„Ich bin aktiv in der politischen Bewegung ‚LiHaqqi‘. Das ist eine demokratische, säkulare Gruppe ohne Hierarchie oder Führungspersonen. Ich bin in dem Arbeitskreis, der sich um die Probleme von Studierenden im Libanon kümmert – und davon gibt es viele: Wir haben zum Beispiel keine gewählte Studierendenvertretung. Darüber hinaus fordern die Universitäten trotz der Wirtschaftskrise, dass wir unsere Gebühren in Dollar zahlen, aber das ist hart (weil die Banken keine Dollar mehr ausgeben, Anm. d. Red.). Mit der Corona-Krise und der Explosion jetzt haben die Studierenden und Schüler keine Ahnung, wie es im nächsten Schuljahr weitergehen soll. Es wird schwer werden, wieder zurück an die Schulen und Universitäten zu gehen. Lehrpersonal wurde zu Hauf entlassen, viele Schulen und Universitäten sind zerstört, haben keine Fenster mehr. Online-Unterricht kann nicht stattfinden, weil das Internet und der Strom ständig ausfallen. Das Bildungsministerium hat keinerlei Informationen herausgegeben, wie es nun weitergeht. Die Wirtschaftskrise wird sich durch die Explosion auch noch mal massiv verschärfen. Und die Regierung ist komplett abwesend.

Im Moment springen die Menschen für die Regierung ein. Wir koordinieren Hilfsmaßnahmen, Essensausgaben, organisieren uns, säubern die Straßen. Die Polizei hilft uns nicht und die Regierung bezahlt auch niemanden, um aufzuräumen. Die Leute helfen sich, wo sie nur können. Aber wenn sie auf die Straßen gehen und die Zerstörung sehen, die die politische Führung zu verantworten hat, dann werden sie wütend. Die Leute sind richtig sauer! Diese Wut ist politisiert und entlädt sich bei Protesten für ein besseres Land. Die Regierung unter Hassan Diab war genau wie die davor, kontrolliert von denselben Oligarchen, die das Land seit  dem Bürgerkrieg regieren. Jetzt, wo die Regierung gestürzt ist, sollte auch das Parlament aufgelöst werden und der Präsident zurücktreten, denn sie repräsentieren nicht die libanesische Bevölkerung. Der Rücktritt bedeutet nichts, wenn es eine Einheitsregierung aus allen politischen Parteien oder eine militärische Führung geben wird.“

„Unsere Herzen bluten“

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Foto: Julia Neumann

Marwa*, 24, arbeitssuchend, hat Informatik studiert

„Ich gehe auf die Straße, weil wir genug haben. Mein Bruder wäre fast gestorben. Wir haben keine Hoffnung mehr in das Land. Wir haben so viele Herausforderungen. Die Politiker geben uns nichts, wir haben keine Rechte. Wir sind noch jung, aber wir fühlen uns so alt! Unsere Herzen bluten, sie nehmen alles von uns, sogar unsere Leben. Ich sehe keine Zukunft. Ich sehe nur Zerstörung. Diese Explosion war kein Zufall, es ist die Schuld der Politiker. Die Explosion ist das Resultat von  jahrelanger schlechter Regierungsführung. Manche Menschen unterstützen ihre Parteien noch, weil sie hungrig sind. Die Armut steigt jeden Tag, die Menschen brauchen jeden einzelnen Cent. Aber glaub‘ mir, die meisten haben es so satt.

Nichts wird den Zorn der Leute besänftigen. Die Leute haben ihre Kinder, ihre Geschwister verloren. Mein Cousin musste wegen der Explosion an beiden Händen operiert werden. Nichts wird die Leute beruhigen, außer die Politiker so leiden zu sehen, wie wir leiden. Neuwahlen sind da auch keine Lösung. Die Parteien werden (durch das Wahlgesetz und Bestechung, Anm. d. Red.) einfach nur die Leute ins Parlament befördern, die sie bevorzugen. Genauso, wie sie es beim vergangenen Mal gemacht haben, als sie (nach den Massenprotesten im Oktober, Anm. d. Red.) das Kabinett ausgesucht haben: Sie haben zwar die Minister ausgetauscht, aber das waren die Leute, die von den Parteien unterstützt wurden, nicht etwa Personal, das die Revolutionären wollten. Die Lösung ist, von all den schlechten Menschen in der Politik loszukommen. Aber das braucht Jahre.“

*Marwa möchte ihren Nachnamen nicht nennen.

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