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„Das Selbstbewusstsein der Demonstrierenden wächst“

45 000 Menschen versammelten sich am Samstag in Leipzig, um gegen die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren.
Foto: Omer Messinger / Getty Images

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45 000 Menschen protestierten  Schätzungen zufolge am Samstag in der Leipziger Innenstadt gegen die Corona-Beschränkungen. Unter ihnen waren auch zahlreiche Neonazis und Rechtsextreme, die, wie auch die anderen Demonstrierenden, aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren. Es kam zu Gewalt gegen Journalist*innen und Polizei, nach der Auflösung der Demonstrationen eskalierte die Situation stellenweise. 

Auf der Demonstration waren, wie auch bei anderen Querdenken-Kundgebungen,  Menschen mit rechtsextremen Tattoos  genauso zu sehen wie Herzchen-Luftballons. Wie passt das zusammen? Dieter Rucht leitet das Institut für Protest- und Bewegungsforschung und beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit verschiedenen Protestformen. Im Interview erklärt er, was so viele Menschen auf die Straße treibt und welche Fehler der Politik dazu beitragen. 

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Die Wut vieler Teilnehmenden richtet sich gegen die Corona-Beschränkungen.

Foto: John MacDougal / AFP
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Ein Demonstrierender steht der Polizei gegenüber.

Foto: Omer Messinger / Getty Images
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Eine Gruppe innerhalb der Demo trägt anklagende Schilder mit den Gesichtern von Politiker*innen und Wissenschaftler*innen.

Foto: John MacDougal / AFP
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Aus dem ganzen Bundesgebiet reisten Demonstrierende nach Leipzig.

Foto: Sebastian Kahnert / dpa

jetzt: Waren Sie am Wochenende bei der Demo in Leipzig vor Ort?

Dieter Rucht: Ich habe die Proteste nur online und in den Medien beobachtet und habe mit Menschen gesprochen, die dort waren. Allerdings war ich Ende August bei der Querdenken-Demo in Berlin.

Was ist in Leipzig Ihrer Ansicht nach  passiert?

Das war eine Fortsetzung dessen, was in Berlin schon sichtbar war: Aggressive Gruppen werden lauter und sichtbarer. Ich habe das Gefühl, dass sich die Tonlage verschärft und das Selbstbewusstsein der Demonstrierenden wächst.

„Diejenigen, die die Krise wirklich hart trifft, sind nicht auf den Demos vertreten“

Wie beschreiben Sie als Wissenschaftler die Zusammensetzung der Proteste?

Als extrem divers. Die Zusammensetzung hat sich aber etwas verändert. In der Anfangsphase sind auch Linke als Initiatoren oder Sprecher aufgetreten. Die sind jetzt nicht mehr dabei – wohl, weil es jetzt eine starke Präsenz nicht nur rechtspopulistischer, sondern auch rechtsradikaler Gruppen gibt. Was sehr interessant ist: Diejenigen, die die Krise wirklich hart trifft, zum Beispiel Menschen aus der Gastronomie oder dem Gesundheitswesen, sind nicht auf den Demos vertreten, zumindest nicht in organisierter Form. Ich vermute: Die wollen nicht mit rechten Gruppen oder Verschwörungsanhängern in Verbindung gebracht werden.

Was ist der gemeinsame Nenner derer, die am Samstag in Leipzig waren?

Der vordergründige gemeinsame Nenner ist: „Wir sind gegen die Corona-Bestimmungen.“ Dabei spielt die Denkfigur des Widerstands und der Freiheit eine erstaunlich große Rolle. Es gibt eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik, mit „denen da oben“.

Wieso stört es viele anscheinend nicht, mit Rechtsextremen in einer Reihe zu stehen?

Ich beobachte auf den Demos eine sehr merkwürdige Mischung. Auf der einen Seite gibt es dieses euphorische Gefühl der Massenhaftigkeit, eine kollektive Erfahrung: „Wir können, wenn es sein muss, Tausende Polizisten in Bedrängnis bringen.“ Die Masse allein scheint Macht zu verleihen. Und dann ist es den Menschen egal, wer genau Teil der Masse ist: Sie sind gleichgültig gegenüber dem, was um sie herum passiert oder was Menschen sagen, die neben ihnen auf der Demo stehen. Sie haben keine Bedenken, sich da neben Spinnern aufzuhalten, und auch nicht, sich neben rechtsradikalen Parolen oder Fahnen wiederzufinden. Sie sagen: „Ich bin aufgrund meines Anliegens hier. Die anderen interessieren mich nicht.“

„Ich denke, dass viele der Demonstrierenden das Gefühl haben, dass ihnen die Kontrolle über ihr Leben entgleitet“

Ist das typisch für Proteste, dass man einen Teil ausblendet und so tut, als ob es nur um das eigene Anliegen gehe?

Nein, gar nicht. Sonst versuchen Demonstrierende eigentlich, eine größtmögliche Einigkeit auch in den Forderungen zu erreichen, dem Protest einen Nenner zu geben und Grenzen zu markieren. Bei den Querdenkern ist es eher umgekehrt. Der Protest franst zu den Rändern hin aus. Hauptsache, es kommen viele Menschen. Was sie denken und tun, ist sekundär. Es geht um die Masse als solche, die bloßen Teilnehmerzahlen sind Teil der Botschaft. Ich habe in Berlin Ende August erlebt, dass Demonstrierende Polizisten angebrüllt haben, nur weil sie präsent waren. Ich fand diese anlasslose Aggression enorm überraschend. Sonst kommt es zu Aggression gegenüber der Polizei, wenn man deren konkretes Verhalten kritisiert. Aber diese Beamten standen einfach nur da.

Woher kommt so eine anlasslose Aggression?

Ich denke, dass viele der Demonstrierenden das Gefühl haben, dass ihnen die Kontrolle über ihr Leben entgleitet. Die Pandemie ist ein Inbegriff des Kontrollverlustes. Vielleicht ist der eigene Job in Gefahr; andere haben Angst, ihren Kindern keine bessere Zukunft ermöglichen zu können. Viele sehen sich als Spielball externer Bedingungen.

Wie wird sich die Dynamik der Proteste weiter entwickeln?

Das hängt sehr davon ab, wie sich die Pandemie entwickelt. Je stärker die Einschränkungen, desto stärker die Betroffenheit der Menschen, und desto günstiger dann auch die Anknüpfungsmöglichkeiten für die Querdenker.

Wie sehen Sie den Umgang der Politik mit den Protesten?

Wenn Demonstrationen stark umstritten sind und von den Regierenden selbst uneinheitlich gesehen werden, wenn sich die Gerichte widersprechen, wie es auch in Leipzig war, dann wirkt alles chaotisch. Das beflügelt das Selbstbewusstsein der Demonstrierenden, weil man weiß, dass die politischen Gegner uneins sind.

Also müsste die Politik klarer machen, wie es zu bestimmten Regeln kommt?

Auch, ja. Wenn man die Parlamente in die Entscheidungen mehr einbeziehen würde, dann hätten viele Bürger weniger den Eindruck, dass da nur was von oben herab beschlossen wird, ohne dass es ausreichend diskutiert wird. Wenn um Lösungen gerungen wird, dann kommen vielleicht auch vernünftigere Lösungen raus, als wenn ein kleiner Kreis darüber entscheidet. Darüber hinaus sollte die Zivilgesellschaft stärker beteiligt werden.

Wie zum Beispiel?

Indem man Foren schafft, in denen man über lokale Erfahrungen spricht, in denen auch Betroffenheiten dargelegt und Lösungen diskutiert werden. Das Gefühl, dass man ein Forum hat, gehört wird, dass man widersprechen kann, das würde vielen Menschen helfen. Das könnte das Demo-Geschehen wieder etwas eindämmen. Man kann zudem zivilgesellschaftliche Initiativen, die Demokratie fördern, finanziell fördern, auch Projekte gegen rechts, die oft nur eine kurzfristige Förderung bekommen. So kann man ein Gegengewicht schaffen.

„Es kann sein, dass dieser harte Kern sich dann weiter radikalisiert“

Was, wenn die Beschränkungen irgendwann wieder vorbei sind – gibt es in dem Protest schon einen harten Kern, der langfristig bleiben wird?

Ich denke schon. Einzelne Menschen wie Michael Ballweg, die als Ankerpersonen hervorgetreten sind, werden trotzdem weitermachen wollen. Sie werden auch ein anderes Thema finden, wenn Corona weg ist. Man kann diese diffuse Unzufriedenheit vieler Bürger auch in andere Richtungen lenken. Da spielt die Denkfigur des Populismus eine wichtige Rolle: „Wir sind das Volk und oben sitzt die Elite, die unsere Bedürfnisse missachtet.“ Das ist etwas, was bleiben wird. Es kann sein, dass dieser harte Kern sich dann weiter radikalisiert.

Der Gegenprotest war am Samstag sehr klein. Was bewirkt er überhaupt?

Das ist schwer zu sagen. Wenn man jeden Protest der Corona-Kritiker zum Anlass nimmt, um selbst möglichst viele Menschen zu mobilisieren, dann wertet man die Querdenker auf. Man muss abwägen: Wann ist Protest sinnvoll und wann sollte man die Corona-Leugner auch mal ins Leere laufen lassen? Ein großer, starker Gegenprotest ist dann aussagekräftig, wenn er Energien bündelt und bei gegebenem Anlass auch machtvoller auftritt.

Wieso gehen hier so viele Menschen gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße und in anderen Ländern nicht?

Das frage ich mich auch. Es gab ja auch in Spanien oder Italien Proteste, aber nicht in dem gleichen Ausmaß wie hier. Plausibel ist die These, dass viele Menschen die Beschränkungen als unverhältnismäßig ansehen, weil Deutschland ja bisher halbwegs gut durch die Krise gekommen ist, und viele nicht sehen wollen, dass das eben an den Gegenmaßnahmen liegt. Aber das erklärt meiner Ansicht nach nicht alles. Wir werden die Querdenken-Bewegung aber in den kommenden Monaten analysieren und hoffen, dann eine Antwort auf diese Frage zu finden.

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