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Warum Dokumentarfilme über rechte Gewalt wichtig sind

Gedenken an Süleyman Taşköprü in Hamburg.
Screenshot: „Spuren“/Vimeo/Traces

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Als das rechtsextreme Terrornetzwerk NSU, der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund, im November 2011 aufflog, war Aysun Bademsoy geschockt: „Wie kann in Deutschland so etwas passieren, ohne dass die Polizei oder die Landeskriminalämter etwas merken?“ Diese Frage stellt sich die Regisseurin noch heute, acht Jahre später. Ihr Dokumentarfilm „Spuren“, der Anfang November auf dem Dokumentarfilmfestival in Leipzig Premiere feierte und 2020 in die Kinos kommen soll, nähert sich dem Fall aus der Perspektive der Opferfamilien. Bademsoy besuchte die Familien von drei der zehn NSU-Todesopfer: Mehmet Kubaşık, Enver Şimşek und Süleyman Taşköprü. Sie fuhr mit ihnen an die Tatorte, saß in ihren Wohnzimmern, redete viele Stunden lang. Und zeigt: Rechte Gewalt wird das Leben dieser Menschen ihr Leben lang prägen und verändern. 

„Spuren“ ist nicht der einzige Film, der sich beim Filmfestival in Leipzig mit Rechtsextremismus und dessen Auswirkungen beschäftigt hat. Rechte Gewalt war einer der Schwerpunkte des diesjährigen Festivals. Im Kurzfilm „Brand“ von Jan Koester und Alexander Lahl kommt Markus Nierth, der ehemalige Bürgermeister von Tröglitz in Sachsen-Anhalt zu Wort, der sich 2015 dafür einsetzte, 40 Geflüchtete in seiner Gemeinde aufzunehmen und deswegen angefeindet und massiv bedroht wurde. Eine geplante Flüchtlingsunterkunft brannte, rechte Demonstrierende zogen durch den Ort. Der Animationsfilm versucht zu verstehen, was passiert ist. „To the Living“ von Pauline Fonsny zeichnet das Portrait einer jungen Nigerianerin, die 1998 in Brüssel Zuflucht suchte, in einem Auffanglager festgehalten und von Polizisten erstickt wurde.

Aysun Bademsoy: „Rechte Morde ziehen sich durch die deutsche Geschichte“

Mit dem NSU beschäftigt sich auch ein Projekt der unabhängigen Kunst- und Rechercheagentur „Forensic Architecture“: Darin wird der NSU-Mord in Kassel an Halit Yozgat behandelt, bei dem ein Mitarbeiter des Hessischen Verfassungsschutzes anwesend war – was er zunächst verschwieg. Minutiös deckt die Gruppe auf, wer wann in dem Internet-Café anwesend war, in dem Halit Yozgat erschossen wurde. Und stellt am Ende fest: Eigentlich ist es unmöglich, dass der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes nichts gesehen und nichts gehört hat, wie er im Prozess behauptet hat. 

Die Regisseurin Aysun Bademsoy sagt: „Rechte Morde ziehen sich durch die deutsche Geschichte. Man darf das nicht vergessen. Das ist meine große Angst. Deswegen habe ich diesen Film gemacht.“

Tatsache ist: Wir brauchen diese Filme heute dringend. Der Mord an Walter Lübcke, der rechtsextreme Terroranschlag in Halle, Morddrohungen rechtsextremer Gruppen gegen Politiker*innen wie den Thüringer CDU-Chef Mike Mohring, gegen die Grünen Cem Özdemir und Claudia Roth, die Wahlerfolge der AfD bei den vergangenen Landtagswahlen – rechter Terror und rechte Politiker*innen sind sehr präsent in Deutschland. Nach Angaben des Bundesamts für Verfassungsschutz leben in der Bundesrepublik mindestens 12 700 gewaltbereite Rechtsextremist*innen (Stand: 31. Dezember 2018). Im vergangenen Jahr wurden mehr als 19 400 rechtsextrem motivierte Straftaten begangen. Erst zu Beginn dieser Woche gab die Bundesregierung bekannt, dass sie bei selbsternannten Bürgerwehren „Ansätze für rechtsterroristische Potenziale“ sehe. Dokumentarfilme geben diesen Zahlen Gesichter. Sie schauen hin, bleiben dran, bohren tiefer als viele tagesaktuelle Medien es können. Sie begleiten ihre Protagonist*innen manchmal über Jahre. Oder arbeiten Fälle auf, die schon lange her sind.

So auch der Film „Noch einmal“ des Dresdner Künstlers Mario Pfeifer. Er beschäftigt sich intensiv mit einem Vorfall, der heute für viele vergessen ist: Im sächsischen Arnsberg hatten im Sommer 2016 vier Männer Schabaz Saleh Al-Aziz, einen 21-jährigen, psychisch kranken Geflüchteten aus dem Irak, nach einem Streit in einem Supermarkt mit Kabelbinder an einen Baum gefesselt – angeblich, um Umstehende zu schützen. Ein Verfahren gegen die vier Männer wegen Freiheitsberaubung wurde am ersten Verhandlungstag wieder eingestellt. Eine der Begründungen des Richters: Das öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung sei nicht groß. Absurd in Anbetracht der Tatsache, dass vor dem Gericht demonstriert wurde, dass bundesweit Medien berichteten. Der Geflüchtete erlebte diesen Tag nicht mehr. Der ehemalige Patient eines psychiatrischen Fachkrankenhauses war über Monate verschwunden und erfror im Januar 2017. Seine Leiche wurde in einem nahen Waldstück gefunden. 

Zivilcourage – oder Selbstjustiz und die reine Lust an der Gewalt?

Pfeifers Film ist eine Collage. Er lässt die Tat nachspielen, blendet immer wieder Medienberichte von 2016 ein, lässt den Fall am Ende des Films von zehn Menschen mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung beurteilen. Sie alle sind erschüttert. Der Film stellt auch die Frage: Wäre das einem oder einer Deutschen auch passiert? Er urteilt nicht, er zeigt alle Seiten, auch die Meinung derjenigen, die öffentlich in Kameras Sätze wie diese sprachen: „Wenn dieser Akt der Zivilcourage jetzt von einem Gericht verurteilt wird, dann wird das dazu führen, dass viel weniger Menschen in Deutschland Zivilcourage zeigen. Dann wird euren Frauen und Töchtern im Schwimmbad niemand mehr helfen.“ Zivilcourage – oder Selbstjustiz und die reine Lust an der Gewalt? Der Künstler sagt, er wolle eine Debatte starten. „Kunst kann so viel auslösen“, sagt Pfeifer. Bewusst zeige er im Film ganz unterschiedliche Perspektiven. 

Dass der Prozess gegen die vier Männer, unter ihnen auch ein CDU-Stadtrat, eingestellt wurde, hat das Vertrauen vieler Menschen in den deutschen Rechtsstaat mindestens angeknackst, wie einige Protagonist*innen im Film deutlich sagen. Genauso ist es mit dem Urteil im NSU-Prozess, das viele als reinen Hohn aufnahmen. „Mein Vertrauen in das System war total erschüttert, ist es immer noch“, sagt Regisseurin Aysun Bademsoy.

Auch, weil sie persönlich getroffen war, wollte sie herausfinden: Geht es den Familien der Opfer genauso? Wie überstehen sie so etwas? Können sie diesem Land noch vertrauen? Und: Können sie Deutschland noch als Heimat bezeichnen? Manche, wie die Tochter des 2006 in Dortmund ermordeten Kubaşık sagen: Ja. In Dortmund gebe es zwar auch eine große Neonazi-Szene, und manchmal überlege sie, ob sie auf der Straße dem Mörder oder der Mörderin ihres Vaters begegne, sagt sie im Film. Doch es gebe auch viele Menschen, die ihr jeden Tag Kraft geben würden. „Dortmund ist meine Stadt, meine Heimat“, bekräftigt sie. Andere Familien gingen nach dem Urteil in die Türkei, weil sie sich nicht mehr sicher fühlten. 

Aysun Bademsoy hofft, dass ihr Film irgendwann vor Schulklassen gezeigt wird. Nicht, weil sie ihn selber so gut finde, sagt sie. Sondern um aufzuklären über das, was passiert ist. Und vielleicht wieder passieren könnte. Denn die Regisseurin fürchtet: „Wenn hier nicht ernsthaft etwas getan wird, dann wird es noch viel schlimmer.“ Filme wie „Spuren“ oder „Noch einmal“ erinnern uns genauso wie das akribische Projekt von „Forensic Architecture“. Sie zeigen verschiedene Perspektiven, ohne belehrend zu sein. Sie berühren, machen nachdenklich, holen die Zuschauer*innen raus aus der eigenen Wohligkeit. Dass beim wichtigsten europäischen Dokumentarfilmfestival ein expliziter Schwerpunkt zum Thema gewählt wurde, zeigt: Wir müssen uns intensiv mit rechter Gewalt beschäftigen, und Dokumentarfilme sind ein guter Weg. Filme allein reichen zwar nicht. Doch sie zeigen der Öffentlichkeit und auch der Politik, dass wir nicht vergessen dürfen. Und alles in unserer Macht stehende tun müssen, um rechten Terror künftig zu verhindern.

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