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„Wir mussten uns übergeben vor lauter Tränengas“

Hunderttausende ziehen durch die Straßen Santiagos, manche haben Schilder dabei. Hier sagen sie damit: „Wir sind nicht hysterisch, wir sind historisch.“
Foto: Sophia Boddenberg

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In Chiles Hauptstadt Santiago riecht es nach Tränengas, verbranntem Plastik und frischer Farbe. In der ganzen Stadt brennen Barrikaden, auch ein Fast-Food-Lokal, Geschäfte und U-Bahn-Stationen stehen in Flammen. Demonstrierende sprühen Sprüche wie „Renuncia Piñera“ („Piñera, tritt zurück“) und „Chile Despertó“ („Chile ist aufgewacht“) auf die Wände der Gebäude. Videos solcher Szenen gibt es in der Instagram-Story von jetzt. Mehr als eine Woche nach dem Ausbruch der Massenproteste soll es eine Demonstration vor dem Regierungspalast La Moneda geben. Aber die Polizei hat alle Straßen in der Nähe abgesperrt und treibt die Menschen mit Tränengas, Pfefferspray und Wasserwerfern auseinander.

Auch die 16-jährige Schülerin Martina ist heute mit ihrer Freundin Montserrat auf der Straße. „Wir mussten uns eben übergeben vor lauter Tränengas“, sagt Martina und schluchzt. Ihre Augen sind rot und Tränen laufen ihre Wangen hinunter. Beide Mädchen tragen grüne Tücher um den Hals, das Symbol der chilenischen Bewegung, die für die Legalisierung von Abtreibung kämpft. Immer, wenn wieder eine Tränengaswolke kommt, bedecken sie sich Mund und Nase mit dem Tuch. Auch Wasser mit Natron haben sie gegen das Tränengas dabei. „Wir werden gewaltsam von der Polizei unterdrückt und die Regierung will so tun, als wäre alles normal. Aber wir protestieren weiter“, sagt Martina.

„Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre Machtmissbrauch durch die Regierung“

Martina und Montserrat sind Teil der Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die die Protestwelle in Chile ausgelöst hat. Vor zwei Wochen protestierten sie mit einer Aktion des kollektiven Schwarzfahrens, in Chile „evasión“ genannt, gegen eine Erhöhung des U-Bahn-Fahrpreises um 30 Pesos, umgerechnet etwa vier Euro-Cent. „Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre Machtmissbrauch durch die Regierung. Die Erhöhung des Fahrpreises war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“, empört sich Martina.

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Martina und Monserrat kämpfen nicht nur sich selbst, wie sie sagen. Sondern für diejenigen, denen es schlechter geht.

Foto: Sophia Boddenberg

Die Schülerinnen und Schüler waren selbst gar nicht betroffen von der Erhöhung des Fahrpreises, da sie mit einem ermäßigten Ticket U-Bahn fahren. „Wir haben den Protest nicht wegen uns angefangen, sondern wegen unserer Eltern, unserer Großeltern, unserer Nachbarn, wegen unserer Mitmenschen“, erklärt Montserrat. „Wir sind auf der Straße für alle, die nicht protestieren können, weil sie krank sind oder weil sie arbeiten müssen.“

Strom, Wasser, Bildung, Gesundheitssystem – alles ist fast komplett privatisiert

Am Freitag, dem 18. Oktober, griffen die Proteste von den U-Bahn-Stationen auf die Straßen über und lösten einen landesweiten Aufstand auf. Mittlerweile geht es lange nicht mehr um die Preise des öffentlichen Nahverkehrs, sondern um Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Chile ist das OECD-Mitgliedsland mit der größten sozialen Ungleichheit. Ein Prozent der Bevölkerung besitzt fast ein Drittel des Reichtums. Die Hälfte der Bevölkerung verdient weniger als 400 000 Pesos im Monat, umgerechnet etwa 500 Euro. Ein großer Teil der Chilen*innen gibt also etwa zehn Prozent des Monatslohns dafür aus, mit der U-Bahn zur Arbeit und wieder nach Hause zu kommen. Für Lebensmittel geben die Chilen*innen etwa 19 Prozent ihres monatlichen Einkommens aus.

In den Protesten entlädt sich die jahrzehntelang angestaute Wut der Bevölkerung. Das neoliberale Wirtschaftssystem, das seinen Ursprung in der Militärdiktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) hat, hat die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter vertieft. Strom, Wasser, Bildung, Gesundheits- und Rentensystem – alles ist fast komplett privatisiert. Öffentliche Einrichtungen erhalten nur wenig Unterstützung vom Staat.

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Die Protestierenden sammeln sich in verschiedenen Ecken der Stadt, kommen dorthin zu Fuß oder mit dem Rad.

Foto: Sophia Boddenberg
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Hunderttausende sind bei den größten Protestaktionen dabei.

Foto: Sophia Boddenberg
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Manche von ihnen erklimmen Gebäude oder Verkehrsschilder, um ihre Botschaften besser sichtbar zu machen.

Foto: Sophia Boddenberg

Montserrat und Martina gehen auf eine Privatschule. Das können sich aber nicht viele Eltern leisten. „Wir protestieren auch für alle Schüler und Lehrer der öffentlichen Schulen. Nur ein Bruchteil der Schüler, die eine öffentliche Schule besuchen, können an der Universität studieren. Das ist doch ungerecht!“, findet Montserrat. Wer kein Geld hat, bekommt keinen Zugang zu den privaten Schulen und Universitäten in Chile. Ein Platz an einer Privatschule kann bis zu 800 Euro im Monat kosten. Der Mindestlohn liegt bei etwa 350 Euro im Monat. Deshalb kann sich nur eine kleine Elite eine gute Ausbildung für die Kinder leisten. Viele Studierende müssen sich verschulden, um die Universität zu bezahlen.

„Ich habe mich für den Rest meines Lebens verschuldet, um studieren zu können“

So auch die 32-jährige Camila. Sie demonstriert am Plaza Italia im Zentrum Santiagos. Hier treffen sich seit Beginn der Protestwelle jeden Tag Tausende Menschen. Sie hat gerade ihr Studium beendet und muss in einigen Monaten anfangen, einen Kredit zurückzuzahlen. „Bildung ist eine Ware in Chile. Ich habe mich für den Rest meines Lebens verschuldet, um zu studieren“, sagt sie. „Wir sind es leid, für alle Grundrechte bezahlen zu müssen.“ Ihre Großeltern hätten ihr ganzes Leben lang gearbeitet und erhielten nur die Mindestrente, erzählt sie. „Davon kann keiner leben.“ Die Mindestrente liegt umgerechnet zwischen 100 und 200 Euro und ist für diejenigen vorgesehen, die keine private Altersvorsorge haben.

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Camila demonstriert mit einem zynischen Spruch: „Du hast mich für das ganze Leben verschuldet. Exzellenter Service.“

Foto: Sophia Boddenberg
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Am Plaza Italia endet der Protestmarsch häufig.

Foto: Sophia Boddenberg

Camila hat auch an den Protesten von 2006 und 2011 teilgenommen. Monatelang protestierten dabei Schüler*innen und Student*innen auf den Straßen gegen die hohen Schul- und Studiengebühren und für ein besseres öffentliches Bildungssystem. Erreicht haben sie wenig, die Regierung hat lediglich mehr Stipendien für Kinder und Jugendliche aus ärmeren Verhältnissen bereitgestellt. Aber sie haben viel gelernt: nämlich, wie man protestiert.

„Die jungen Leute sind politisch gebildet – und akzeptieren oberflächliche Vorschläge nicht“

Deshalb spielen Generationen, die an den Schüler- und Studierendenprotesten teilgenommen haben, heute eine wichtige Rolle in der aktuellen Protestwelle. Das weiß auch Octavio Avendaño, Politikwissenschaftler der Universidad de Chile. Sie sagt: „2006 waren sie Schüler und haben das Schulsystem infrage gestellt, 2011 waren sie Studenten und mussten sich deshalb verschulden. Jetzt sind sie im Beruf und erleben die prekären Arbeitsbedingungen und die unsichere Zukunft. Sie sind politisch gebildet – und nicht bereit, oberflächliche Lösungsvorschläge der Regierung zu akzeptieren.“

Diese Generation schlösse sich nun mit den heutigen Schüler*innen und Studierenden zusammen, die selbst die Verwahrlosung des öffentlichen Bildungssystems erleben. Avendaño ergänzt: „Gleichzeitig verbünden sie sich mit den älteren Generationen, die die Militärdiktatur miterlebt haben. Deswegen hat diese Bewegung die gesamte Gesellschaft.“

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Die Vorwürfe gegen die Polizei wiegen schwer: Sie hätten Demonstrierende verletzt und einige sogar sexuell missbraucht.

Foto: Sophia Boddenberg
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In Santiago werden auch Wasserwerfer gegen die Demonstrierenden eingesetzt.

Foto: Sophia Boddenberg
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Beinahe täglich gehen trotzdem immer mehr Menschen auf die Straße.

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In Chile demonstrieren inzwischen nicht mehr nur junge Erwachsene, sondern auch Alte und Kinder.

Foto: Sophia Boddenberg

Die chilenische Regierung versucht nun, die Proteste mit militärischer Gewalt zu unterdrücken. Bereits am ersten Protesttag verhängte Präsident Sebastián Piñera den Ausnahmezustand und schickte fast 10 000 Soldat*innen mit Panzerwagen auf die Straßen. Mindestens 20 Menschen sind während der Proteste schon ums Leben gekommen. Vier von ihnen wurden von Polizist*innen oder Soldat*innen erschossen, drei überfahren. Mehr als 1000 Menschen liegen mit Verletzungen in Krankenhäusern und über 3700 wurden verhaftet, 375 davon sind Minderjährige. Das alles belegen Zahlen des Nationalen Instituts für Menschenrechte, die chilenische Regierung gibt selbst kaum offizielle Zahlen heraus. Das Institut hat außerdem 50 Fälle von Folter und 15 Fälle von sexuellem Missbrauch registriert.

„Sie wurden entblößt, mit Waffen missbraucht und bedroht, einige wurden sogar vergewaltigt“

 Ein 23-jähriger Student wurde nach seiner Verhaftung von Polizisten ausgezogen, verprügelt und mit einem Schlagstock sexuell missbraucht. An den Verband Feministischer Anwältinnen ABOFEM haben sich mehr als 15 Frauen gewendet, die von Polizisten oder Soldaten sexuell missbraucht oder vergewaltigt wurden. „Es handelt sich um minderjährige und um erwachsene Frauen, die während der Proteste oder nach der Ausgangssperre festgenommen wurden. Sie wurden entblößt, mit Waffen missbraucht und bedroht, einige wurden sogar vergewaltigt“, sagt die Anwältin Natalia Bravo. „Wir hätten nie gedacht, dass wir in Zeiten der Demokratie solche Fälle registrieren würden. Das Schlimme ist, dass es eine sehr hohe Dunkelziffer von Mädchen und Frauen gibt, die sich schämen und sich nicht trauen, Anzeige zu erstatten.“

Mittlerweile hat die Regierung zwar den Ausnahmezustand aufgehoben, die Fahrpreis-Erhöhung der U-Bahn zurückgenommen und soziale Reformen angekündigt. Die Proteste gehen trotzdem weiter. Es ist zu spät. „Die Regierung hat komplett das Vertrauen der Bevölkerung verloren. Sie befindet sich in einer Sackgasse“, sagt Politikwissenschaftler Avendaño. Die Zustimmung für Piñera ist einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Cadem zufolge auf 14 Prozent gesunken. Seit der Rückkehr zur Demokratie in Chile hat noch kein Präsident so niedrige Werte erhalten. Die Umfrage offenbart außerdem, dass 80 Prozent der Bevölkerung die sozialen Reformen der Regierung für unzureichend halten.

„Nichts, was Piñera macht, kann diesen Schaden wieder gut machen“

Während die Proteste auf den Straßen weitergehen, haben sich in vielen Stadtvierteln Nachbarschaftsversammlungen gegründet. So auch im Barrio Yungay, einem historischen Stadtviertel im Zentrum Santiagos, in dem Menschen verschiedener Nationalitäten und sozialer Schichten zusammenleben. Hunderte Menschen treffen sich jeden Abend auf dem Plaza Yungay, aber es werden jeden Tag mehr. Sie sprechen über ihre Sorgen und Ängste und darüber, wie sie sich ein besseres Land vorstellen. Bei zwei Dingen sind sich alle einig: Die Regierung solle zurücktreten und eine neue Verfassung müsse her. Die aktuell in Chile gültige Verfassung stammt noch aus der Militärdiktatur.

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Claudia ist 28 und war selbst bei den Protesten von 2006 dabei.

Foto: Sophia Boddenberg

Die 28-jährige Claudia ist eine der Sprecherinnen der Versammlung im Barrio Yungay. Sie sagt: „Die Diktatur hatte die sozialen Bindungen zerstört. Sich mit den Nachbarn zu treffen, miteinander zu reden und einander zu vertrauen, ist wie eine interne Revolution.“ Sie bezeichnet Piñera als ersten Präsidenten, der nach der Diktatur die ohnehin schwache Demokratie in Gefahr gebracht habe. „Indem er die Soldaten auf die Straße geschickt hat, hat er Angst verbreitet bei denjenigen, die die Militärdiktatur erlebt haben. Nichts, was er macht, kann diesen Schaden wieder gut machen.“

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Eine der häufigsten Kampfansagen der jungen Chilen*innen ist: „Wir haben keine Angst!“

Foto: Sophia Boddenberg
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Die Proteste gehen oft bis in die Nacht hinein.

Foto: Sophia Boddenberg

„No Tenemos Miedo“ („Wir haben keine Angst“), ist einer der Sprüche, der die aktuelle Protestwelle geprägt hat. Aber haben die jungen Leute wirklich keine Angst? „Ich glaube“, sagt Claudia, „es geht bei unserer Furchtlosigkeit um mehr, als keine Angst vor Polizei und Staat zu haben. Wir haben die Angst davor verloren, nicht dazuzugehören. Die Angst davor, keine Arbeit zu finden. Die Angst davor, nicht viel zu besitzen.“ Nicht mal Angst vor dem Tod hätten sie noch – immerhin sei ihr Leben unter diesen Bedingungen sinnlos. „Aber diesen Sinn bauen wir mit unserem Protest wieder auf.“

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