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„Wenn die Verfassung für alle gilt, wieso dann nicht für den König?“

Nutchanon hält sich nach seiner Entlassung erstmal bedeckt und wartet auf sein Gerichtsverfahren.
Foto: privat

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So erinnert sich Nutchanon an seine Verhaftung: „Um sieben Uhr am Morgen des 15. Oktobers klopfte ein Freund an die Tür meines Hotelzimmers.“ Hier waren er und seine Freunde untergekommen, nachdem sie tags zuvor wieder eine Großdemo in Bangkok organisiert hatten. „Der Freund sagte, dass die Polizei im Hotel sei, um Rung festzunehmen. Wir liefen sofort zu ihrem Zimmer.“ 

Panusaya Sithijirawattanakul, ihre Freunde nennen sie Rung, wird oft als Anführerin oder „das Gesicht“ der Protestbewegung in Thailand bezeichnet und ist die Chefin der „United Front of Thammasat and Demonstration“ (UFTD), einer von mehreren Gruppen von Aktivist*innen, die sich an der Thammasat-Universität in Bangkok gegründet haben und die Protestbewegung vorantreiben.

„Wir warteten mit ihr. Irgendwann schaute jemand durch den Spion vor die Tür – und da waren die Polizisten. Sie hatten sich eine Schlüsselkarte besorgt und öffneten die Tür.“ Als sie im Raum standen, lasen sie den Haftbefehl für Rung vor. Einer 22-Jährigen mit Harry-Potter-Brille – nicht unbedingt das, was man sich unter einer Staatsfeindin vorstellt. 

„Dann wandte sich der Beamte an mich. Ob ich Nutchanon sei. Ich antwortete nicht. Ja, ich sei es, sagte der Beamte dann selbst und dass ich auch festgenommen sei. Wie Rung widersetzte ich mich, indem ich meinen Körper schlaff machte und mich nicht bewegte. Aber sie setzten mich in einen Rollstuhl und schoben mich weg.“

Die Anklage: aufrührerisches Verhalten, Computerkriminalität, Widersetzung gegen die Notstandsverordnungen und Inkaufnahme der Übertragung ansteckender Krankheiten.

Nutchanon Pairoj, genannt Nutt, ist 21 und gehört zum Kern der UFTD und damit zum Kern der Protestbewegung, die den Rücktritt von Premierminister Prayuth Chan-o-cha, mehr Demokratie und ein Umdenken in der Gesellschaft fordert, die von einer patriarchalischen Elite dominiert wird. Auf einer Demo im August wurde zudem öffentlich die Monarchie kritisiert – in Thailand eigentlich ein Tabu, dessen Bruch mehrjährige Haftstrafen nach sich ziehen kann.

Fünf Tage lang war Nutchanon politischer Gefangener. Am 20. Oktober wurde er entlassen, weil das Gericht bei ihm kein Fluchtrisiko sah. Ein Datum für sein Verfahren steht noch aus. Acht seiner Mitstreiter*innen, auch Panasuya, sind noch im Gefängnis. Über eine Mittelsfrau konnten wir Nutchanon kontaktieren und ihn zu seiner Haft und den Protesten in Thailand befragen. 

jetzt: Was ging in dir vor, als du verhaftet wurdest?

Nutchanon: In den ersten Sekunden, die ich im Polizeiwagen saß, sagte ich mir, dass das einfach eine neue Erfahrung sein würde. Aber ich hatte auch Angst. Ich war noch nie in einem Gefängnis und die thailändischen Gefängnisse haben einen schlechten Ruf. Letztlich wurde ich dort dann aber ganz gut behandelt. Man hielt mich nicht für einen schlechten, sondern einfach für einen andersdenkenden Menschen. Auch meine Angst vor anderen Insassen verschwand. Die meisten waren nicht gefährlich, sondern sind oft einfach durch soziale Missstände in die Kriminalität getrieben worden. Einige kannten unsere Bewegung und waren froh zu hören, dass ich mich dafür engagiere.

Ich machte mir große Sorgen, ob die Leute draußen den Kampf weiterführen könnten. Aber dann erzählte mir mein Anwalt, dass die Proteste weitergingen und das machte mich glücklich.

„Wir sind damit aufgewachsen, dass eine alte Generation das Land beherrscht und über unsere Zukunft bestimmt“

Wann hast du angefangen, dich für Politik zu interessieren?

Vor drei Jahren fing ich an mich zu fragen, warum mein Heimatdorf und viele andere ländliche Regionen nicht an der ökonomischen Entwicklung Thailands teilhaben. Wir sind schließlich nicht fauler als andere Menschen. Da wurde mir klar, wie zentralisiert Reichtum und Entwicklung in unserem Land sind. Die Reichen werden immer reicher und der Rest von uns bleibt ausgeschlossen. Da habe ich beschlossen, Politikwissenschaft zu studieren und mich aktivistisch zu engagieren.

Wer sind die Menschen, die mit dir gegen die Regierung protestieren?

Anfangs vor allem Studierende. Wir merkten aber irgendwann, dass es nicht reicht, wenn der Protest nur an den Unis bleibt. Deshalb haben wir den Protest auf die Straßen getragen. Es sind mittlerweile auch gar nicht nur junge Menschen, die protestieren. Alle Generationen sind vertreten. Gleichzeitig ist es schon so, dass wir jungen Menschen viel weniger zu verlieren haben – wir haben keine Familien zu ernähren und haben kein Kapital angehäuft. Wir haben deshalb weniger Hemmungen, unsere Gedanken offen zu äußern. Und wir sind damit aufgewachsen, dass eine alte Generation das Land beherrscht und über unsere Zukunft bestimmt – aber wir wollen unsere Zukunft selbst bestimmen.

Wie soll diese Zukunft aussehen?

Das Thailand, in dem ich jetzt lebe, ist so weit entfernt von dem Thailand, das ich mir wünsche! Ich wünsche mir soziale, ökonomische und gesetzliche Gleichberechtigung. Aber die gibt es bei uns nicht. Wie wir vom Staat behandelt werden, hängt ab von unserem sozialen Status, unserem Geschlecht, unserem Vermögen, körperlichen Beeinträchtigungen oder der Zugehörigkeit zu bestimmten marginalisierten Gruppen. 

Wer Bildung will, muss wohlhabend sein und in Bangkok leben. Und vor Gericht gewinnt nicht, wer im Recht ist, sondern wer sich einen teuren Anwalt leisten kann. Wir können es uns auch nicht leisten, anders zu denken: Pai, ein bekannter Aktivist, kam 2016 ins Gefängnis, nur weil er auf Facebook einen BBC-Artikel über die Biografie des Königs geteilt hat. Wenn die Verfassung für alle gilt, wieso dann nicht auch für unseren König? Wieso ist er unantastbar?

So etwas zu sagen, war lange undenkbar in Thailand. Für Majestätsbeleidigung kann man bis zu 30 Jahren Freiheitsstrafe bekommen. 

Ja, es ist neu für die Menschen, offen über die Monarchie zu reden und sie zu kritisieren. Als wir auf einer Kundgebung in der Thammasat-Universität im August die Reform der Monarchie ansprachen, blieben die Zuhörer still. Nicht, weil sie uns nicht zustimmten, sondern weil sie nicht wussten, wie sie reagieren sollten oder durften. Seitdem bekommen die Leute aber immer mehr Mut, offen über die Monarchie zu reden.

Wie ist es mit deinem Mut – hat der mit der Verhaftung nachgelassen?

Als ich festgenommen wurde, hatte ich erst Angst, mein Team könnte sich einschüchtern lassen und seine Anstrengungen einstellen. Zum Glück war genau das Gegenteil der Fall: Die Verhaftungen haben das Feuer der Hoffnung nur noch mehr angefacht und führen dazu, dass jetzt immer mehr Leute aufstehen. Es könnte jetzt zu einem umfassenden, führerlosen Widerstand kommen.

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