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„Auf Partys ziehe ich besonders gerne Europa-Socken an“

„Wenn ich meine Biografie erzähle, versteht man Europa“, schreibt Nini Tsiklauri in ihrem Buch.
Foto: Jolly Schwarz

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Nini Tsiklauri wurde 1992 in Georgien geboren. Kurz darauf flohen ihre Eltern mit ihr vor dem Bürgerkrieg nach Ungarn, kehrten einige Jahre später nach Georgien zurück, 2002 führt sie der Weg nach Deutschland. Dort wurde Nini als Kinderschauspielerin („Die Wilden Kerle“, „Schloss Einstein“) und Sängerin bekannt und nutzte ihre Bühne auch, um sich politisch zu äußern. Der Kaukasuskrieg 2008 und das Brexit-Referendum 2016 haben sie zur politischen Aktivistin macht. Als Studentin gründete sie „Pulse of Europe Wien“, ging auf Tour durch die österreichische Provinz, um über die EU aufzuklären, und trat 2019 für die Neos in Österreich bei der Europawahl an.

Heute arbeitet sie unter anderem für die Initiative „Panthersie für Europa“, die Europa-Bildungsarbeit macht, und absolviert einen Aufbaustudiengang an der Europäischen Akademie für Diplomatie in Warschau. Seit 2011 ist Nini deutsche Staatsbürgerin, fühlt sich aber auch Georgien immer noch eng verbunden. Am 17. Oktober ist ihr Buch „Lass uns um Europa kämpfen“ im Verlag „edition a“ erschienen. Es ist teils Autobiografie, teils Liebeserklärung an die EU, teils Aufruf zum Engagement.

Beim Interview am Telefon spricht Nini darüber, warum sie auch oder gerade in Krisenzeiten an Europa glaubt, wieso sie für Georgien ohne EU keine Zukunft sieht, und was es mit ihr gemacht hat, für ihr Engagement angeschrien und angespuckt zu werden.

jetzt: Meine erste Frage klingt ein bisschen nach Telefonsex, aber: Was hast du gerade an?

Nini Tsiklauri: Ein dunkelrotes Oberteil und eine schwarze Hose.

In deinem Buch schreibst du, dass du ausschließlich Blau und Gelb trägst, um deine Europa-Überzeugung zu demonstrieren. 

Nicht, wenn ich alleine oder im Büro bin. Aber wenn ich auf einen Geburtstag gehe, bei einer Panel-Diskussion spreche oder in der Stadt auf der Einkaufsmeile unterwegs bin, also viele Leute treffe, dann schon. Auf Partys ziehe ich besonders gerne Europa-Socken an. Darauf wird man oft angesprochen und es ist der perfekte Einstieg, um über die EU zu reden.

Dein Buch heißt „Lasst uns um Europa kämpfen“. Dabei geht es dir ja eigentlich nicht um das geografische Europa, sondern um die Europäische Union als politischen Staatenbund, oder?

Ich habe das extra so formuliert. 

„Viele Staats- und Regierungschefs ziehen Brüssel in den Dreck, um von den eigenen Problemen abzulenken“

Warum?

Um niemanden abzuschrecken. Bei den Demos von „Pulse of Europe“ sagen die Menschen, die vorbeikommen, oft: „Steht ihr hier für Europa oder für die EU? Wenn für Europa, dann bleibe ich, aber mit der EU habe ich Probleme.“

Die haben aktuell auch viele Menschen, die eigentlich proeuropäisch eingestellt sind. Sie sagen zum Beispiel: „Nach der Katastrophe in Moria kann ich nicht mehr hinter der EU stehen.“

Weil sie nicht unterscheiden zwischen Konsequenzen, die auf die EU zurückzuführen sind, und solchen, die die Nationalstaaten angehen. Der österreichische Nationalrat hat zum Beispiel gerade erst dagegen gestimmt, 100 Kinder aus Moria aufzunehmen. Daran ist also Österreich schuld und nicht die Europäische Union. 

Die EU ist aber auch nicht unschuldig an Moria. Die Dublin-Verordnung, durch die die Staaten an den Außengrenzen mit der Bewältigung der Migration allein gelassen wurden, ist zum Beispiel eine EU-Verordnung.

Viele Staats- und Regierungschefs ziehen Brüssel aber regelmäßig in den Dreck, um von sich selbst und den eigenen Problemen abzulenken, sei es in der Flüchtlings- oder in der Klimakrise. Die europäische Idee, die hinter der EU steckt, leidet, wenn sie immer als Sündenbock hergenommen wird. Das ist gefährlich, weil es sich auf die nationalen Wahlen auswirkt: Wenn die Menschen den Gedanken mitnehmen „Die EU ist unsolidarisch, die brauchen wir nicht“, wählen sie die rechten Parteien, die gegen die EU hetzen.

Du schreibst in deinem Buch allerdings selbst: „Die eigentliche Krankheit ist die Handlungsunfähigkeit der EU.“ Und um die zu beheben, müsste man die EU-Institutionen reformieren.

Irgendwann ja, aber ich wollte mit dem Buch erst nochmal einen Schritt zurückgehen. 

Warum?

Weil wir noch nicht bereit dafür sind, über so große Zukunftsvisionen wie die „Vereinigten Staaten von Europa“ oder die „Europäische Republik“ nachzudenken. Es braucht erstmal generell eine positive, proeuropäische Stimmung, ein „europäisches Gefühl“ in der Bevölkerung. Bei den Gesprächen in Städten und auf dem Land habe ich die Erfahrung gemacht, dass es viele Missverständnisse und Ängste gibt. Dass erstmal geklärt werden muss: Was bedeutet es, Europäer*in zu sein? Widerspricht das meiner nationalen Identität? Solche Fragen, die manche so leicht für sich beantworten können, sind für andere noch eine große Angelegenheit. Sie müssen sich erstmal bewusst werden, wie wertvoll es ist, Europäer*in zu sein und was sie von der Gemeinschaft haben.

„Viele haben das Gefühl, dass Frieden und Freiheit für immer in Stein gemeißelt sind. Aber das stimmt nicht“

Was haben sie denn davon?

Sie leben auf dem Fundament, auf dem die EU aufgebaut wurde: Rechtsstaatlichkeit, Frieden, Freiheit und Menschenwürde. Aber dieses Fundament ist im Moment sehr wackelig, weil viele den Bezug dazu verloren haben. Für Menschen, die in den Neunzigern in der EU geboren wurden, klingen die genannten Werte abstrakt und floskelig, weil sie sich gar nicht vorstellen können, wie es ohne ist. Für jemanden wie mich, die ich Unfreiheit und Krieg erlebt und in einem korrupten Land gelebt habe, ist das was anderes. Viele hier haben einfach das Gefühl, dass Frieden und Freiheit für immer in Stein gemeißelt sind. Aber das stimmt nicht. Wir müssen sie pflegen.

In deinem Buch schreibst du: „Wenn ich meine Biografie erzähle, versteht man Europa.“ Wie meinst du das?

Zum Beispiel habe ich 2008, mit 16, mit meiner Familie Verwandte in Georgien besucht, als es zum Krieg mit Russland und den von Russland unterstützten autonomen Regionen Südossetien und Abchasien kam. Wir mussten die Reise abbrechen und mehr oder weniger fliehen. Auf dem Weg zum Flughafen explodierte direkt vor unserem Auto eine Bombe. Damals habe ich mir geschworen: „Wenn ich das hier überlebe, dann werde ich alles tun, um etwas zum Positiven zu verändern“. Als ich angefangen habe, am offenen Mikrofon von „Pulse of Europe“ davon zu erzählen, habe ich die gemerkt, dass Menschen davon ergriffen waren. Viele haben anschließend gesagt, dass sie nachvollziehen können, warum ich mich für Europa einsetze. Geschichten lösen oft etwas in Menschen aus. Sie helfen dabei, etwas aus einer anderen Perspektive zu sehen. Sie können das Bewusstsein ändern.

Eigentlich übernimmst du damit einen Job, den die EU selbst machen müsste. Sie ist ziemlich schlecht darin, mit der Bevölkerung zu kommunizieren...

Ich finde, es ist die Aufgabe von Initiativen und Bürger*innen in den Mitgliedstaaten, die europäischen Themen herunter zu brechen und in einfacher Sprache zu vermitteln. Das kann man nicht von Brüssel aus machen, weil Europa so vielfältig ist. Manchmal unterscheidet es sich ja schon von Ortschaft zu Ortschaft, wie man Menschen am besten erreicht. 

Bevor du Vollzeit-Europa-Aktivistin wurdest, hast du dich vor allem für gute Beziehungen zwischen der EU und Georgien eingesetzt. Warum?

Nur, wenn Georgien sich weiter in Richtung Westen und EU orientiert, haben Frieden, Freiheit und Menschenrechte dort dauerhaft eine Chance. Ansonsten müsste das Land sich an China oder Russland orientieren, an autokratischen, menschenverachtenden Systemen. Das wissen die Georgier*innen, das wissen auch die Ukrainer*innen und die Weißruss*innen. 

„Die Aggression und die Anfeindungen haben mich emotional mitgenommen“

Wie nimmst du die aktuelle Situation in Georgien wahr?

Am 31. Oktober finden die nächsten Wahlen statt und es wird eine Schicksalswahl für das Land. Es kommt jetzt darauf an, wie sich die Bevölkerung entscheidet, ob sie den pro-europäischen oder den pro-russischen Weg wählt. Schon vergangenes Jahr gab es massive Demonstrationen für eine Wahlrechtsreform und gegen den Einfluss Russlands. Ich mache mir wirklich große Sorgen, dass alles, was seit der Rosenrevolution 2003 erarbeitet wurde, wieder ins Wasser fällt. Ich war stolz darauf, was damals erreicht wurde, und lange war es mein Plan, irgendwann nach Georgien zurückzugehen und das Land weiter voran zu bringen.

Und jetzt ist es kein Plan mehr?

Es ist mein größter Traum! Aber wenn die EU auseinanderbricht, brauche ich nicht zurück zu gehen. Denn dann gibt es sowieso keine Zukunft für Georgien. Die Probleme der EU, der Brexit und die Spaltereien hier haben mich also erstmal aufgehalten. 

Du hast in den vergangenen drei Jahren viele Reisen in Österreich unternommen, um über die EU aufzuklären. Häufig gab es auch negative Reaktionen von der lokalen Bevölkerung. Du wurdest sogar angespuckt. Hat dich das nicht frustriert?

Die Aggression und die Anfeindungen, dass Leute einfach so volle Kanne losgeschimpft haben, das hat mich emotional und menschlich schon mitgenommen. Irgendwann war ich an einem Punkt, an dem ich dachte, dass ich nicht noch mehr geben kann. Vergangenes Jahr habe ich mir darum erstmal Zeit für mich genommen.

Was glaubst du, wie sich die Corona-Krise auf das Europa-Gefühl auswirkt? 

Ich denke, wir können auch daraus etwas Positives schöpfen. Wir haben in der Krise gemerkt, wie wichtig es ist, gemeinschaftlich zu denke, dass wir europäische Ansätze brauchen, weil die Gefahr nicht vor der Haustür aufhört. Wir Europa-Aktivist*innen haben es auch noch nie zuvor geschafft, uns so oft zu treffen. Vorher gab es Treffen in den Regionen und Städten, aber jetzt treffen wir uns regelmäßig mit Menschen aus vielen verschiedenen Ländern im virtuellen Raum. Ich kann mir gut vorstellen, dass das auch weiterläuft, wenn die Krise vorbei ist. Und insgesamt sind wir doch alle gerade ein bisschen ausgebremst und „lost“ – und können uns darum vielleicht einfach mal die Zeit nehmen, über Europa nachzudenken. 

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