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„Ich bin gegen den Krieg! Und Millionen von Russen auch“

Vier junge Russ:innen berichten, warum sie sich mit der Ukraine solidarisieren und was sie von Putin fordern.
Foto: privat: Bearbeitung: jetzt

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Bilder von bulligen Männern in Kampfmontur, die in russischen Städten Demonstrierende in Kleinbusse oder zu Boden zerren, gehen seit Tagen um die Welt. 6440 Menschen in insgesamt 103 Städten sind seit Beginn der Anti-Kriegs-Demonstrationen in Russland festgenommen worden – und müssen mit Haftstrafen rechnen. Die russische Regierung versucht so, zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen ihre Invasion der Ukraine im Keim zu ersticken. Auch der inhaftierte Kreml-Kritiker Alexej Nawalny äußerte sich nun aus seiner Gefangenschaft zum Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auf Twitter rief er die russische Bevölkerung dazu auf, täglich zu demonstrieren.

Jetzt hat vier Russ:innen aus verschiedenen Ländern erreicht und mit ihnen gesprochen. Warum solidarisieren sie sich mit der Ukraine? Was fordern sie von Putin und was vom Rest der Welt?

Alisa Lorenz, 27, ist Datenanalystin und wohnt in Hessen. Ihr Vater kommt aus Deutschland, ihre Mutter aus Russland. Auch ein Teil ihrer Familie lebt noch dort:

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Alisa Lorenz fällt es schwer, mit ihrer Familie in Russland über den Krieg zu reden.

Foto: privat

„Ich habe kein Verständnis dafür, wie Putin so egoistisch ein ganzes Land in den Krieg führen und ohne wirklichen Grund ein anderes, unabhängiges Land angreifen kann. Das sind Brüder und Schwestern, Cousins und Cousinen, die da gegeneinander kämpfen. Fast jeder Russe hat Verwandtschaft in der Ukraine und andersherum. Ich habe nicht gedacht, dass so eine Situation in der heutigen Zeit noch entstehen kann. Auch wenn es in den letzten Jahrzehnten Konflikte und Kriege in Europa gab, fühlt es sich diesmal sehr nah an. Gerade weil ich Familie und Freunde in Russland habe. 

Das Schlimme daran ist, dass ein großer Teil der russische Bevölkerung gar nicht dahinter steht, meinem Eindruck nach. Zumindest nicht so, wie die russischen Medien es darstellen. Aber mit den Informationen, die die meisten Russen aus den öffentlich-rechtlichen Medien beziehen, ist es kein Wunder, wenn sie sich nicht dagegen stellen. Weil denen überhaupt nicht gezeigt wird und damit auch nicht bewusst ist, was gerade in der Ukraine passiert. Meine Großmutter zum Beispiel ist schon älter, hat kein Internet oder Smartphone, mit dem sie sich informieren kann. Und wenn man jahrelang im Fernsehen hört, dass der Westen Russland schaden will, hat man das irgendwann auch verinnerlicht. Deshalb fällt es mir schwer, mit meinen Verwandten in Russland darüber zu reden. Man kann noch so viel erklären, man fühlt sich machtlos gegen diese Propaganda. Mit meinen russischen Freunden, die eine differenziertere Meinung haben, spreche ich aber schon darüber.  

„Die Wahrheit wird der Bevölkerung vorenthalten“

Welchen Einfluss es hat, dass Nawalny Russlands Bevölkerung zu Protesten aufgerufen hat, kann ich schwer einschätzen. Ob die Menschen wirklich ihre eigene Sicherheit aufgeben, um sich gegen einen Krieg aufzulehnen, von dem sie nur Bruchteile mitbekommen, ist fraglich. Die Wahrheit wird der Bevölkerung vorenthalten und gleichzeitig sind die Konsequenzen für protestierende Menschen in Russland sehr hoch. Ich kann daher gut verstehen, wenn man Angst und Sorge hat, die Stimme zu erheben und sich für eine Sache einzusetzen, deren Ausmaße man nur gefiltert mitbekommt. Da außerdem Vielen der Zugang zu internationalen Nachrichten fehlt, bekommen sie von Nawalnys Aufruf möglicherweise gar nichts mit.”

Elizaveta Russkikh, 20, lebt in Sankt Petersburg. Sobald sie genug Geld gespart hat, möchte sie im Ausland studieren und als Webentwicklerin arbeiten:

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Elizaveta Russkikh lebt in Sankt Petersburg und will gegen den Ukraine-Krieg auf die Straße gehen.

Foto: privat

„Ich versuche, meine Freunde in der Ukraine zu unterstützen und teile Petitionen und Bilder gegen den Krieg mit meinen Followern auf Instagram. Auch meine russischen Freunde haben Familie und Freunde in der Ukraine und wir machen uns große Sorgen um sie. Die Situation ist schockierend. Ich habe keine Angst vor Konsequenzen, aber das was ich da mache, ist natürlich illegal. Ich meine, wenn man zum Beispiel zu Protesten geht, kann man als Extremist und Verräter ins Gefängnis kommen. Die Polizei hat vor kurzem einen Freund von mir für fünf Tage verhaftet, als er auf einer Demonstration in Sankt Petersburg war. Beim nächsten Mal will ich aber auch dabei sein. Es wäre mir egal, wenn ich verhaftet werden würde, der Frieden ist viel wichtiger. Wahrscheinlich schert sich Putin nicht um unsere Proteste, aber andere Länder sollen sehen, dass wir uns mit der Ukraine solidarisieren.

„Ich bin Putins Regime leid, denn wegen ihm haben wir all unsere Freiheiten verloren“

Es fällt mir schwer, die Stimmung in Russland zu beschreiben. Die Menschen sind aggressiv und beschuldigen sich gegenseitig. Ich habe Angst um die Leute, die sich gegen den Krieg einsetzen. Es gibt aber auch Menschen, die den Krieg unterstützen. Weil sie grausam sind, aber auch weil sie der Propaganda zum Opfer gefallen sind. Ich mache mir auch Sorgen um meinen Freund. Er war in der russischen Armee und es könnte sein, dass er in den Krieg geschickt wird. 

Ich bin Putins Regime leid, denn wegen ihm haben wir all unsere Freiheiten verloren. Wegen der Sanktionen können wir zum Beispiel nicht mehr reisen oder nicht mehr in internationalen Unternehmen arbeiten. Auch die Lebensmittelpreise sind gestiegen, obwohl sie vorher schon hoch waren. Wir sind ein armes und wortwörtlich hungriges Land, dank Putin. Nachts kann ich nicht mehr schlafen und mache mir Sorgen um meine Zukunft. Ich habe Angst, dass uns jetzt alle hassen. Am liebsten würde ich den Präsidenten wechseln oder Russland verlassen.”

Dmitry Marsh, 37, ist in Russland geboren und aufgewachsen. Aktuell lebt er in der US-amerikanischen Stadt San Diego:

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Dmitry Marsh hofft auf einen Regimewechsel in Russland.

Foto: privat

 „Ich kann einfach nicht glauben, dass Putin das wirklich getan hat. Ich bin schockiert, wie die meisten meiner russischen und ukrainischen Freunde. Unter den Russen hier in den USA unterstützt fast niemand Putins Regime. Das kann man von Russland nicht behaupten. Da gibt es immer noch verblendete Menschen, die diesen Krieg wollen – was traurig und tragisch ist. 

„Es ist schwer zu sagen, was in Putins Kopf vorgeht“

Leider ist das Einzige, was die Situation retten kann, ein Regimewechsel in Russland durch einen wirtschaftlichen und militärischen Zusammenbruch des Landes. Für die Nato sehe ich ehrlich gesagt keine Möglichkeit, militärische Hilfe zu leisten, ohne dass es zum Dritten Weltkrieg kommt. Die Verteidigung der Ukraine liegt also völlig bei ihr alleine. 

Auch Alexei Nawalnys Aufruf zum Protest wird wahrscheinlich nichts ändern –zumindest nicht in Russland. Ich habe von 2011 bis 2015 in Russland protestiert und an Kundgebungen der Opposition teilgenommen. Ich wurde sogar verhaftet und von der Polizei verprügelt.

Die große Mehrheit der Menschen ist einfach nicht bereit zu handeln. Ich habe oft das Gefühl, sie sitzen zu Hause und glauben, dass sie nichts, was außerhalb ihres Hauses passiert, etwas angeht.

Es ist schwer zu sagen, was in Putins Kopf vorgeht. Höchstwahrscheinlich wird er versuchen, Kiew einzunehmen und dort ein Marionettenregime zu errichten. Möglicherweise wird er die Ukraine auch in zwei Teile spalten. Vielleicht ist es auch ein Plan, die Ukraine zu einem Friedensvertrag zu Moskauer Bedingungen zu zwingen, die zum Beispiel die Anerkennung der Krim-Annexion und der Unabhängigkeit der Donezk und Lugansk sowie das Verbot eines Nato-Beitritts sein könnten.“

Mikhail Shapovalov, 33, ist Fotograf und vor zwei Jahren nach Dubai gezogen. Ursprünglich kommt er aber aus Sibirien:

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Mikhail Shapovalov hat eine Menge Fragen an sein Heimatland Russland.

Foto: privat

„In Russland ist es verboten, das, was da gerade passiert, als Krieg zu bezeichnen“

„Ich bin in Dubai, weit weg von all dem. Aber mein Herz ist bei den Menschen in der Ukraine. Was dort geschieht, ist schrecklich!  Meine Großmutter stammt aus Odessa, ein Teil meiner Familie ist noch dort. Meine Freunde sind jetzt in Kiew, Czernowitz, Winniza und Charkow. Ich stehe in Kontakt mit ihnen, und es bricht mir das Herz, was sie ertragen müssen. Politische Spiele wie das von Putin haben einfachen Menschen schon immer das Leben gekostet. Der Weg des Krieges ist immer ein falscher Weg, und es ist egal, von welcher Seite die Bomben fliegen.  

Ich bin zwar kein Politikwissenschaftler oder Geschichtsexperte, deswegen ist es schwierig für mich, über die Gründe und Motive zu sprechen. Aber ich bin grundsätzlich gegen den Krieg! Und Millionen von Russen auch. Ein Freund von mir geht momentan auch auf die Straße, um zu protestieren. Ich habe Angst um ihn. Und da Alexei Nawalny jetzt zum Protest aufgerufen hat, kann es vielleicht sein, dass noch mehr Russen auf die Straße gehen. Er hat einen großen Einfluss auf die Leute und viele, die ihn unterstützen. 

In Russland ist es verboten, das, was da gerade passiert, als Krieg zu bezeichnen. Offiziell ist das kein Krieg, die nennen es ,Operation Entnazifizierung’. Nur diejenigen, die auf Social Media aktiv sind, sehen das Schreckliche, das da gerade passiert. Ich liebe mein Land zwar sehr, aber ich habe eine Menge Fragen an den Staat.“

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