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Der DJ, der an der Front in der Ostukraine kämpfte

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Die Lichter blitzen, die jungen Körper tanzen zur Drum’n’Bass-Musik. Viele würde sagen: zur besten Drum’n’Bass-Musik des Landes. DJ Tapolsky steht vor der Front aus über 3000 Jugendlichen in der Expohalle VDNG. Er feuert den nächsten Track in die Masse. Und die Menschen springen, boxen ihre Fäuste in die Luft. Aber der Blick des bekanntesten ukrainischen DJs bleibt abwesend, den 40-Jährigen verbindet kaum etwas mit den feiernden Menschen.

Anatoly Tapolskys Gedanken sind woanders. Als die Party in Kiew beginnt, haben die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für diesen Tag vierzig Verstöße gegen den Waffenstillstand im Osten der Ukraine gemeldet. Tapolsky schreibt auf Facebook mehrmals täglich mit seinen Kumpels an der Front. Er kennt den aktuellen Kriegsverlauf genau.

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Foto: Bernd Fink

Artilleriefeuer. Mörser, Granaten und neue Kriegsopfer. Bis vor wenigen Wochen war das auch seine Welt, auch er tötete, kämpfte in Tarnkleidung des ukrainischen Militärs. DJ Tapolsky schloss nicht länger Musikboxen an, er schleppte Boxen voller Waffen. Statt Tracks in die tanzende Menge, feuert er Granaten auf seine Gegner.

Tapolskys Weg von Partynächten zu einem Alltag aus Kampf begann vor genau drei Jahren. Blau-gelbe Flaggen flatterten am 29. November 2013 über 100.000 Demonstranten. Alte Frauen in dicken Mänteln sprangen sich neben jungen Männern zu DJ Tapolskys Drum’n’Bass die Kälte aus ihren Körpern. Zum ersten Mal legte der DJ auf dem Maidan in Kiew auf. Ein Holztisch diente ihm als Pult. Mit USB-Stick und Laptop spielte er Songs, die er mit ukrainischen Rockbands produziert hatte. Ihre Lyrics handelten von Revolution und den Kampf um Unabhängigkeit.

Eine Woche zuvor hatte eine fehlende Unterschrift ein Beben in der Hauptstadt ausgelöst. Die Regierung unter Viktor Janukowitsch blockierte ein Handelsabkommen mit der EU, kurz bevor es unterzeichnet werden sollte. Wirtschaftlich sei sein Land noch nicht bereit, begründete der Präsident. Stattdessen kündigte er eine stärkere Zusammenarbeit mit Russland an.

Ende 2013 hatte das Vertrauen der Ukrainer in ihre Regierung einen Tiefpunkt erreicht. „Das Ende des Assoziierungsabkommens war der letzte nötige Tropfen, um die Leute auf die Straße zu bringen“, sagt Mykhailo Mishchenko, Leiter des Soziologiedepartments des Razumkov-Zentrums, einer der renommiertesten Denkfabriken Osteuropas. Es sei nicht allein der Wunsch nach einer engeren Bindung an die EU, es seien die Wut auf das System und die hoffnungslose Korruption gewesen, die den Euromaidan verursachten.

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Foto: Bernd Fink

„Hätte die EU mehr Kontrolle über Janukowitsch gewonnen, hätte sich die schlechte Situation der Ukraine verbessert“, sagt Tapolsky. Seinen Ex-Präsidenten nennt der DJ einen schlechten Menschen, einen Banditen. Deshalb wollte Tapolsky nicht einfach nur auf dem Maidan stehen und zusehen. Er wollte ein Teil des Euromaidans sein und die Proteste unterstützen.

„Am häufigsten spielte ich den Song ‚Kämpfe, Ukraine!’ von mir und der Rockband O.Torvald“, erzählt der DJ. Der Text beschreibe genau das, was Tapolsky auf dem Maidan gesehen habe: die Ukraine, wie sie sich gegen die Einflüsse von außen auflehnt. Die Musik sollte den demonstrierenden Menschen Mut machen.

„Die Situation auf dem Maidan war extrem seltsam“, erinnert sich der DJ und lacht. „Rentner tobten zu meiner Musik. Die kannten Drum’n’Bass nicht und dachten, man müsse Drogen nehmen, um die Musik zu verstehen. Sie lagen falsch.“ Die Menschen auf dem Maidan feierten begeistert. 

Am Tag nach Tapolskys erstem Auftritt auf dem Maidan eskalierten die Proteste. Als die spezielle Polizeieinheit Berkut 100 unbewaffnete Jugendliche verprügelte, wandelten sich die Aufstände in ein politisches Erdbeben. Tapolsky beobachtete, wie aus dutzenden Studierenden eine wütende Masse aus einer Million Menschen wurde. „Wir spürten langsam alle, dass etwas Schreckliches passieren würde. Wir waren darauf vorbereitet“, sagt Tapolsky. Und er fügt hinzu: „Als der Erste starb, war das nicht einmal seltsam für mich.“

„Ich war nicht nur der erste Drum’n’Bass-DJ in diesem Land, ich war auch der erste DJ in der freien Ukraine“

Nach Neujahr 2014 drehte sich die Gewaltspirale rasant weiter. Rechtsextreme Gruppierungen unterstützten besser organisierte Demonstranten. Musik spielte schon lange keiner mehr. Ende Februar starben mehr als 100 Menschen. Videos zeigen, wie uniformierte Polizisten auf Menschen hinter provisorischen Schutzschildern zielen. Präsident Janukowitsch flüchtete mitten in der Nacht nach Russland, als sich Politiker und Demonstranten auf Neuwahlen einigten. Der Ukrainekonflikt stand an seinem Anfang.

Als Kind lebte der Diplomatensohn Tapolsky mit seinen Eltern in Indien. Anfang der 90er-Jahre machten The Prodigy elektronische Tanzmusik populär und weckten in Anatoly Tapolsky Musikleidenschaft. 1991 probierte er sich als 15-Jähriger zum ersten Mal an den Plattentellern. In dem Jahr, in dem sein Heimatland die Unabhängigkeit von der Sowjetunion feierte.

Zwei Jahre später zog Tapolsky zurück in die Ukraine. „Ich war nicht nur der erste Drum’n’Bass-DJ in diesem Land, ich war auch der erste DJ in der freien Ukraine“, sagt er. Tapolsky experimentierte, startete bald seine erste Radioshow und organisierte populäre Partys und Festivals. Heute kennt ihn jeder, er ist seit langem der meistgebuchte DJ des Landes. Ukrainische Jugendliche stehen an, um ein Selfie mit ihm zu schießen.

Tapolsky sitzt vor der Party in der VDNG-Halle in einem Kiewer Café. Er lächelt freundlich, doch reserviert. „Um heute die wahre Ukraine zu sehen, muss man in den Donbass gehen“, sagt er, „dorthin, wo Menschen ihre Maschinengewehre auch im Supermarkt tragen.“ Zu seiner Linken und seiner Rechten essen lachende Hauptstadtmenschen Kuchen. Tapolsky ist vor kurzem von der Front zurückgekehrt. Mit leeren Augen streift er seine Landsleute.

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Foto: Bernd Fink

Unabhängigkeit und Freiheit seien für Tapolsky die Ziele des Maidans gewesen. Er bezeichnet sich als Patrioten. Die Liebe für sein Land habe er schon immer gezeigt. „Auf dem Maidan fühlten wir, dass wir eine Nation sind, dass wir etwas verändern können“, erzählt er.

Der Maidan ließ die Ukrainer Patrioten werden. Drei Jahre nach den Protesten färben Gelb und Blau alle Ecken der Städte, ob Vogelhäuschen oder Unterführung. Durch den Profilierungsdrang schimmert die Unsicherheit eines jungen Landes, das zur Frontlinie eines geopolitischen Konflikts wurde.

 

Am 28. März 2014 annektierte Russland die ukrainische Halbinsel Krim. Wenig später begannen Kriegshandlungen im Osten der Ukraine. Russland unterstützte die pro-russischen Separatisten bei der Einnahme von Regierungsgebäuden in ostukrainischen Städten. Ukrainische Truppen gingen in die Offensive. Sie wollten die Territorien bis August befreien. Doch bis heute kontrollieren die Separatisten die selbst proklamierten Volksrepubliken Donetsk und Luhansk.

 

Anfangs drängten vor allem Freiwilligen-Bataillone die Separatisten zurück. Viele ihrer Kämpfer waren ehemalige Maidan-Demonstranten. Waffen und Lebensmittel kauften sie von den Spenden der ukrainischen Bevölkerung. Auch Anatoly Tapolsky organisierte nach den Maidanprotesten Festivals und Partys, um mit dem Geld die Soldaten zu unterstützen.

 

„Die stärksten Patrioten fielen zuerst. Sie waren ideologisiert, doch konnten nicht kämpfen“, sagt Tapolsky. „Ich musste ihnen folgen.“ Der DJ hatte Angst vor dem Krieg. Aber gleichzeitig quälte ihn auch der Gedanke, er setze sich nicht genug für sein Land ein, trotz seiner Spendenaktionen. Als Tapolsky im Sommer 2015 über den Maidan spazierte, kam das Gefühl der Proteste nicht mehr zurück. „Ich kann nicht als Patriot auf dem Maidan stehen und verschwinden, wenn der Krieg beginnt“, sagt er. Tapolsky meldete sich Ende Juni 2015 beim ukrainischen Militär als Freiwilliger. „Meine Entscheidung fiel spontan. Ich zog es einfach durch.“

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Foto: Bernd Fink

So ein Land ist die Ukraine also heute: ein Land, in dem ein DJ freiwillig an die Front geht, seine achtjährige Tochter und seine Ex-Frau hinter sich lässt, ohne zu zögern. Das Töten ersetzt plötzlich ein Leben aus Party, Musik und Fans. An den Bahnhöfen von Kiew und Odessa klopfen sich Männer zum Abschied auf die Rücken. Sie stecken in sandfarbenen Uniformen, die jungen Gesichter mal zuversichtlich, mal besorgt. Ihre Freundinnen pusten ihnen Luftküsse zu, ihre Mütter winken. Die Bilder erinnern an Szenen aus dem Zweiten Weltkrieg.

 

Im Ukrainekonflikt starben laut UN bereits 9.700 Menschen. „Ich habe kein schlechtes Gewissen, ich habe mein Heimatland verteidigt“, sagt Tapolsky. „Vielleicht ist das nicht richtig, aber es herrscht nun einmal Krieg.“ Ende August 2015 erreichte der DJ die Front, wurde der 72. Brigade zugeteilt. Anfangs musste er selten kämpfen, trainierte meist. Im Frühling 2016 flammte der Konflikt erneut auf.

 

Tapolsky musste jeden Tag an die Frontlinie, mit vier oder fünf anderen. Der DJ spricht abgehackt, wenn er vom Alltag dort erzählt. Obwohl er sonst Blickkontakt vermeidet, beobachtet er plötzlich die Reaktionen des Gegenübers genau. „Wir schliefen den ganzen Tag bis sechs Uhr abends, warteten dann auf unser Kommando um acht“, sagt er, „Wir packten Helme und Maschinengewehre ein, fuhren zu unserem Posten und arrangierten die Mörser. “

Mit kurzen Sätzen schildert Tapolsky, wie er die Granaten aus den Boxen nahm. Zwei Granaten pro Box, eine Box wog 32 Kilogramm. „Sie haben geschossen, wir schossen zurück“, sagt er gleichgültig. So sei das in einem Artilleriekrieg. Man wisse nicht einmal, auf wen man ziele. „Der Krieg findet zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens statt. Wenn er aufhört, singen die Vögel und die Sonne scheint“, sagt Tapolsky. Fast wie früher, im Nachtleben als DJ.

 

Nach elf Monaten an der Front versucht sich Anatoly Tapolsky jetzt wieder an seinem alten Leben. Die Zeit, für die er sich zum Militärdienst verpflichtet hat, ist abgelaufen. „Krieg kann niemals eine Lösung sein“, sagt er. Er unterschrieb vor kurzem einen neuen Plattenvertrag, geht in den nächsten Monaten in 40 Städten auf Tour. Doch das Kämpfen hat den DJ verändert. Partys veranstalten, während sein Land im Krieg steckt, mache ihm keinen Spaß. Er spielt mit dem Gedanken, wieder an die Front zu gehen.

 

Vor dem Krieg im Osten legte er auch in den besetzten Gebieten auf. Heute schreiben ihm die ehemaligen Fans aus Donetsk, er hätte sich von einem coolen Typen zu einem Monster gewandelt. Privatnachrichten lässt er auf sozialen Netzwerken nicht mehr zu. „Wenn ich im Krieg einen Fan getroffen habe, hat er eben kein Glück gehabt“, erklärt er mit einem zynischen Lächeln. „Schon traurig. Ein Fan weniger.“

 

 

Das Journalistenkollektiv The Caravan’s Journal produzierte diesen Artikel mit Recherchegeldern des belgischen Fonds Pascal Decroos für Investigativen Journalismus.

 

 

 

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