Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Theoretisch könnte ich den Mittätern täglich begegnen“

Foto: Maike Frye

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Es war ein historisches Urteil, das gestern im NSU-Prozess gesprochen wurde: Nach fünf Verhandlungsjahren muss Beate Zschäpe nun lebenslang ins Gefängnis. Ein Ende des Prozesses bedeutet jedoch noch lange kein Ende des Rechtsextremismus. Deshalb gingen in deutschen Städten gestern tausende Menschen unter dem Motto „Kein Schlussstrich“ auf die Straße. Wir haben mit Demonstranten in Dortmund und München gesprochen.

„Es läuft mir immer wieder eiskalt den Rücken herunter“

burcin keskin3
Foto: Britta Rybicki

Burcin (29) in Dortmund: 

Ich bin Schauspielerin und trete zum mittlerweile fünften Mal bei einer NSU-Demonstration auf. Heute habe ich mich in die Rolle der Witwe Elif Kubaşık versetzt. Es ist eine Herausforderung, dieser Frau gerecht zu werden. Den schrecklichen Moment nachzuspielen, in dem sie erfährt, dass ihrem geliebten Mann Mehmet Kugeln in den Kopf geschossen wurden. Obwohl ich diesen Monolog schon etliche Male aufgesagt habe, läuft es mir immer wieder eiskalt den Rücken herunter. Heute war es besonders schwer. Das Urteil und die eingestellten Ermittlungen beweisen nämlich, dass viele Menschen noch nicht verstanden haben, was da eigentlich passiert ist. Dass rechte Gewalt als eine Folge von Rassismus zehn unschuldige Menschen getötet hat und Familien und Freunde zurücklässt. Wenn wir jetzt einen Schlussstrich im NSU-Prozess ziehen, wird es keine richtige Aufarbeitung geben. Weil wir rechte Gewalt nicht als Terror begreifen, hinter dem ein organisiertes Netzwerk mit vielen Mittätern steckt. Ich werde keinen Schlussstrich ziehen und die Monologe solange vortragen, bis die Ermittlungen wieder aufgenommen werden. Bis wir als Gesellschaft, Politiker und Gerichte Verantwortung übernehmen. Ich will, dass meine Zuschauer verstehen, dass Rassismus keine Kompromisse verdient hat.

„Theoretisch könnte ich den Mittätern jeden Tag in der Innenstadt begegnen“

helin polat2
Foto: Britta Rybicki

Helin (38) in Dortmund: 

Obwohl ich in Deutschland zu Hause bin, gibt mir dieses Urteil nicht das Gefühl, dazuzugehören. Rassismus ist eine Gefahr, vor der man die NSU-Opfer hätte beschützen müssen und der ich und viele andere heute noch ausgesetzt sind. Das Urteil lässt uns mit diesem Problem allein und schließt uns dadurch aus. Hätte ich das Gefühl, dass in diesem Prozess alles erdenkliche unternommen worden wäre, um die NSU-Morde aufzuklären, wäre ich nicht hier. Heute kann und will ich aber keinen Schlussstrich ziehen. Ich lebe in Dortmund, wo Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk erschossen wurde. Seine Mörder müssen hier vor Ort Unterstützung bekommen haben. Theoretisch könnte ich den Mittätern täglich in der Innenstadt begegnen; sie beim Bäcker begrüßen oder in Geschäften anrempeln – ich würde es nicht merken. Viel schlimmer wird das für seine Familie sein. Ich kenne sie und es ist schrecklich, in ihre traurigen Gesichter zu sehen. Sie werden nicht zur Ruhe kommen, wenn sie keine Antworten erhalten. Ich werde die NSU-Morde nie vergessen und hoffe, dass die nächsten Generationen das auch nicht tun. Neben der Wiederaufnahme der Ermittlungen erwarte ich, dass wir uns diesem Problem stellen. Zum Beispiel in Schulen mehr über die Gewalt von Rechten aufklären. Die Ceska-Morde dürfen niemals vergessen werden.

„Die Polizei hat durch ihre Präsenz bedrohlich gewirkt“

imag6100
Foto: Maike Frye

Maren (26) und Marie (27) in München: 

Der Ausgang des NSU-Prozesses ist ein Schlag ins Gesicht, besonders für die Betroffenen. Dass der Fokus nur auf dem kleinen Trio und ein paar Helfern lag, ist ja eh schon problematisch, aber dass es dann auch noch so ein geringes Strafmaß gibt, das geht gar nicht. Bei G20 wurden zum Beispiel Leute fürs Steine schmeißen mit bis zu drei Jahren verurteilt und das, was heute passiert ist, steht gar nicht im Vergleich. Wir fanden es wichtig, heute bei der Demo unsere Solidarität zu zeigen, und finden es toll, dass auch die Familie Yozgat und Şimşek vorne beim Zug mitgegangen sind.

Als wir zur Kundgebung gekommen sind, waren erstmal wenig Leute da. Wir fanden, dass die Stimmung durch die Anwesenheit der Polizei sehr unangenehm war. Als wir mit dem Bus ankamen, haben sie uns eskortiert und einfach durch ihre Präsenz irgendwie bedrohlich gewirkt. Das wurde dieser Demo nicht so gerecht. Natürlich ist es eine Demonstration mit Forderung, aber natürlich auch eine Art von Gedenken und das wurde dadurch gefühlt kriminalisiert. Dann war die Stimmung außerdem gedrückt, weil es wohl vorher auch bei der Kundgebung viele Reden von Betroffenen oder Anwälten gab. Gegen Ende hat die Demo aber nochmal eine Wendung bekommen, weil viele Leute doch noch gekommen sind und es einfach eine große Masse war, die ein Zeichen gesetzt hat.

„Viele Leute stehen nur daneben und filmen“

imag6105
Foto: Maike Frye

Dennis (25) in München:

Ich bin heute bei dieser Demo, weil ich den Prozess einen historischen halte, der in der Form nach dem zweiten Weltkrieg noch nicht da war. Es ist überhaupt einer der längsten Prozesse, die es je gab und der die Spitze des Eisbergs nur aufdeckt. Das Bitterste am heutigen Urteil ist, dass André E. auf freien Fuß kommt, weil die Strafe mit seiner U-Haft verrechnet wurde. Da fehlen mir echt die Worte. Bei ihm war es eindeutig, dass er sogar jetzt noch dem gewalttätigen Nationalsozialismus nicht abgeschworen hat, sondern da immer noch voll drinsteckt. Da sehe ich überhaupt keine Reue. Zschäpes Urteil ist selbstverständlich, alles andere wäre ein Skandal.

Was mir bei der heutigen Demo nochmal aufgefallen ist: Viele Leute stehen leider nur daneben und filmen. Die Demo interessiert sie nicht, sie sehen nur: „Oh, da ist ein Event, ich filme das mal.“ Aber die Demo an sich war sehr gut und lautstark und ich hoffe auch, dass die Hinterbliebenen das ein bisschen tröstlich fanden.

„Beihilfe zum Mord ist genauso schlimm wie der Mord selber“

Victoria
Foto: Maike Frye

Victoria (17) in München:

Die Demo läuft unter dem Thema „Kein Schlussstrich“, das heißt wir demonstrieren weiter gegen Rassismus und gegen Islamfeindlichkeit. Ich finde, wir müssen ein Zeichen setzen, dass so etwas nicht weiter passieren darf und dass man wachsamer sein sollte. Schließlich gibt es weiterhin genug Neonazis, die zur Tat schreiten können.

Der NSU war ja auch nicht nur zu dritt, es gab viele Komplizen, Menschen, die geholfen haben. Ich finde lebenslänglich für Beate Zschäpe ist total berechtigt, aber für die Komplizen hätte es härter sein sollen. Beihilfe zum Mord ist genauso schlimm wie der Mord selber und ich finde es schwach, wie die Helfer heute davongekommen sind.

Mehr Protest:

  • teilen
  • schließen