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Wir müssen lernen, das Wort „Nazi“ richtig zu verwenden

Foto: zach / photocase.de

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„Halten Sie Ihr Maul, Herr Mayer. Sie sind ein Nazi!“ So oder so ähnlich redet man sich heute online an, meist in den Kommentarspalten auf Facebook. Man kennt ihn nicht, weiß nichts über ihn – und behauptet trotzdem: Herr Mayer ist ein Nazi.

Mit dem Ausschreiben von vier Buchstaben will man also konkret einen Neo-Nazi – diesen Begriff kürzt das Wort „Nazi“ in diesem Zusammenhang ja ab – enttarnt haben. Also nicht nur einen Menschen mit rechter Gesinnung, sondern einen, der das NS-Regime verherrlicht und seine Wiederherstellung anstrebt. In diesem Fall, weil er in der Zeitung lesen wollte, dass der Mörder eines jungen Mädchens aus Afghanistan stammte.

Aber auch in anderen Fällen werden Menschen heute schnell als Nazi deklariert. Wenn sie klarmachen, dass sie Angst vor einem angeblich wachsenden Einfluss des Islams haben zum Beispiel. Wenn sie zugeben, die AfD gewählt zu haben oder Mitglied dieser Partei sind. Wenn sie sich stark gegen links aussprechen. Wenn sie erzkonservativ sind.

All diese Punkte machen zwar wahrscheinlich, dass diese Menschen dem rechten politischen Spektrum angehören – zu Nazis macht sie das allerdings noch lange nicht. Denn selbst wer einige Einstellungen mit Nazis teilt, wie zum Beispiel Fremdenfeindlichkeit oder Homophobie, bewertet nicht unbedingt auch das NS-Regime und die Schrecken, für die es verantwortlich war, positiv.

 

Warum also wird der Begriff Nazi trotzdem so inflationär und oft zu Unrecht gegen andere verwendet? Vermutlich, weil es zunächst alles einfacher macht: Die pauschale Abstempelung als Nationalsozialist beziehungsweise Neonazi entzieht dem Gegenüber automatisch die Diskussionswürdigkeit. Man muss sich nicht mehr mit ihm auseinandersetzen. Denn in die braunste aller Ecken gedrängt, ist das Gegenüber nun erst einmal damit beschäftigt, sich von dem Vorwurf wieder reinzuwaschen. Und das kann verdammt schwierig sein. Denn: Wer will schon glauben, was ein potenzieller Nazi sagt? Könnte ja geschickte Propaganda sein.

Ein solches Totschlagargument killt vielleicht die Diskussion – aber eben nicht das Problem

Der Sozialpsychologe Heiner Keupp versteht zwar in gewisser Weise, warum viele Menschen den Begriff Nazi heute häufiger gegen andere verwenden als in früheren Jahrzehnten. Denn im öffentlichen Diskurs und vor allem in den sozialen Medien beobachtet auch er, dass Grenzüberschreitungen mit fremdenfeindlichem Unterton zunehmen – und das bis in die bürgerliche Mitte hinein.

„Es heißt dann oft: 'Das wird man doch noch sagen dürfen!'“, sagt Keupp. Er hält es deshalb ebenfalls für notwendig, „solchen Menschen zu vermitteln, dass sie dabei sind, die demokratische und menschenrechtliche Verfassung unseres Landes zu verlassen.“ Die pauschale Betitelung als Nazi könne das aber nicht leisten. Denn ein solches Totschlagargument killt vielleicht die aufkeimende Diskussion – aber eben nicht das Problem.  

„Deshalb würde ich auch selbst nie mit der Nazi-Vokabel arbeiten“, sagt Keupp. „Wenn ich bei jemandem gewisse Tendenzen erkenne, spreche ich das an. Ich stelle ihm Fragen und diskutiere mit ihm. Möglicherweise erreicht man so oft auch nichts. Aber mit dem ‘Du bist ein Nazi’-Argument habe ich am Ende noch nicht einmal etwas benannt, es gibt keinen Austausch.“ So wird weder auf der einen, noch auf der anderen Seite ein Umdenken möglich.

Vielmehr unterstützt die Beschimpfung sogar die Überzeugungen des Beschimpften, insofern dieser tatsächlich rechts ist. Denn Ideologien arbeiten bekanntlich mit Feindbildern. Ob die sich nun gegen Juden richten, Ausländer oder die Linken – die Stilisierung folgt dem gleichen Prinzip. Indem Menschen, die sich gegen Rechts engagieren wollen, ihre Gegner pauschal und zu Unrecht in die Kategorie „Nazi“ einteilen, bestätigen sie das Feindbild, das diese von „den Linken“ haben.

Die inflationäre Verwendung des Begriffs Nazi gibt Rechten den Vorteil der Opferrolle

Keupp erklärt das so: „Viele Menschen mit Neigung nach rechts wollen die Grenze zu den Nazis aufrecht erhalten und sich nicht mit dieser Ideologie gemein machen. Wer sie dann trotzdem als solche bezeichnet, löst dann schnell Gedanken aus wie: ‘Das sind die Anderen. Die hauen immer gleich auf uns ein, machen uns zu Nazis. Dabei sind wir doch nur konservativ, rechts-bürgerlich eingestellt.‘“ Und voilà, da haben wir sie: Die von uns bereitgestellte Möglichkeit, die Nazi-Keule umzudrehen.

Dass der inflationäre Gebrauch des Wortes nämlich eher den Verwender als den Betitelten treffen kann, weiß auch Wilhelm Heitmeyer. Er ist Soziologe an der Universität Bielefeld, setzt sich seit vielen Jahren mit Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit auseinander und erklärt:

„Während ein Mensch sich mit dem Spruch „Du bist ein Nazi“ in eine Position der moralischen Überlegenheit erheben will, passiert genau das Gegenteil. Das Gegenüber, das sich falsch bestempelt fühlt, findet sich nun in der Rolle des Opfers wieder. Indem er sich dann im eigenen Umfeld oder der Öffentlichkeit als solches darstellt, erwirbt der als Nazi Betitelte einen moralischen Vorsprung.“ Und den kann er für sich nutzen. In einer angeblichen Notwehrsituation könnte er sich laut Heitmeyer so selbst ermächtigen, um zum Beispiel massiv gegen Fremde vorzugehen.

Das machen nicht alle, die fälschlicherweise als Nazis bezeichnet werden. Aber viele radikale Mitglieder der AfD haben diesen Mechanismus offenbar längst erkannt. Einige Anhänger der Partei provozieren so teils bewusst – das unterstelle ich ihnen hier mal – so lange, bis sie als Nazis beschimpft werden. Und zack, ihre Gegner haben ihnen mutmaßliche Beweise dafür geliefert, dass alle Menschen jenseits des rechten Flügels einfach unfassbar ungerecht ihnen gegenüber seien.

Jemanden als Nazi zu bezeichnen, kann ihn tatsächlich zum Nazi machen

Die inflationäre Anwendung des Begriffs Nazi kann laut Heitmeyer außerdem auch dazu führen, dass Menschen, die sich vorher nicht mit dem Begriff identifizieren wollten, das irgendwann doch als reizvoll empfinden.  

Wer jemanden als Nazi bezeichnet, drückt mit diesem Begriff laut Heitmeyer nämlich auch Angst, also eine Form von Respekt, aus. Immerhin fühlt er sich durch die Äußerungen des Betitelten an die unfassbaren Schrecken der NS-Zeit erinnert. Von den Betitelten wird das dann oft auch positiv interpretiert. Nach dem Motto: die haben Angst vor mir, die haben Angst vor uns – und das bedeutet Macht. Sie glauben, sich durch das Nazi-Sein Respekt für die eigene Person verschaffen zu können.

Diese Uminterpretation braucht es allerdings noch nicht einmal: Die ständige Etikettierung als Nazi mache eine tatsächliche Identifikation mit der zugeteilten Rolle ohnehin wahrscheinlicher. „Begriffe“, so sagt Heitmeyer, „schaffen Realität“. Das sei ein Mechanismus, der auch in anderen sozialen Bereichen zu beobachten sei.

„Die Bezeichnung als Nazi kann auch tatsächlich entsprechendes Verhalten des Gegenübers bewirken oder es verstärken. Wer mit der Verwendung des Begriffs Nazi eigentlich genau das Gegenteil bewirken wollte, verschärft also unter Umständen rechte Tendenzen“, sagt Heitmeyer.

Der Begriff Nazi verliert durch den unangemessenen Gebrauch an Schrecken

Generell findet er: „Die inflationäre Verwendung des Begriffes Nazi ist völlig unangemessen. Sie trägt unter anderem dazu bei, dass dieser Begriff normalisiert wird und seinen Schrecken verliert.“ Damit werde auch das Nazi-Regime selbst verharmlost.

Denn wenn schon Herr Mayers Facebook-Kommentar ihn zum Nazi machen kann, waren dann vielleicht auch die Nazis zu Zeiten des Dritten Reichs vergleichsweise harmlose Figuren?! Waren sie natürlich nicht. Noch ist uns das klar. Doch Punkte wie diese könnten Rechte und sogar „echte“ Neo-Nazis, die sich diese Bezeichnung unter Umständen sogar selbst geben, als Argumentation dafür nutzen, dass Nazismus nichts allzu Bedrohliches sei.

Auch rechte Politik muss man differenziert betrachten

Deshalb ist es wichtig, den Begriff Nazi nur auf Menschen anzuwenden, auf die er tatsächlich passt: Also solche, die sich gerne im Dritten Reich wiederfänden. In jedem anderen Fall ist der Gebrauch des Wortes gefährlicher Missbrauch. Denn rechte Politik hat viele Gesichter – und auch die muss man sich trauen, anzuschauen.

Darunter findet man Erzkonservative, die Angst vor Fremdem und Veränderung haben. Aber auch Protestwähler, die oft nicht fremdenfeindlich sind, unterstützen inzwischen rechte Parteien wie die AfD. Und am äußersten Rand dieser Gruppe gibt es dann eben auch die Rechtsextremen, die unsere demokratische Grundordnung am Liebsten abschaffen würden – und bereit sind, für dieses Ziel Gewalt anzuwenden. Wer zwischen diesen Leuten nicht unterscheiden will, gibt zu früh auf und bedient das gleiche Schubladendenken, das er bei der Gegenseite verteufelt.

 

Wer den Begriff Nazi als Beschimpfung verwendet, sollte sich zuvor also verschiedene Fragen stellen. Zum Beispiel: Kann ich Herrn Mayer wirklich mit einem Menschen gleichsetzen, der im zweiten Weltkrieg Anhänger Hitlers war und sich mit Millionen von Morden einverstanden zeigte? Will ich eine politische Diskussion auf diese Weise beenden und damit den Diskurs unmöglich machen? Will ich dazu beitragen, dass der Begriff Nazi an Wirkung verliert? Will ich meinem Gegenüber den Vorteil der Opferrolle überlassen, indem ich seine rechten Tendenzen nicht differenziert genug betrachte?

 

Ich will es nicht. Ich will mir diesen Begriff aufsparen – für Menschen, die tatsächlich nationalsozialistischer Gesinnung sind. Denn natürlich gibt es sie, die (Neo-)Nazis. Auch heute noch. Aber, ob Herr Meyer einer ist? Das wage ich zu bezweifeln.

 

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