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Warum wollen gerade junge Menschen die Abspaltung von Spanien?

Foto: Maria Jousol

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Während über der Gran Vía in Barcelona langsam die Sonne untergeht, deutet nichts darauf hin, dass sich wenige Meter von hier bald Vermummte eine Straßenschlacht mit der Polizei liefern werden. Die Stimmung ist friedlich, fast euphorisch. Kinderwagen stehen neben Rollatoren, Jugendliche rauchen Joints neben Senior*innen, auf der Bühne spielt eine Ska-Band. Fast 10 000 sind zu der Kundgebung gekommen. Auf der Bühne spielen katalanische Musiker ihre Songs, tragen katalanische Schriftsteller*innen katalanische Gedichte vor, halten katalanische Aktivist*innen Reden. Dazwischen immer wieder die Rufe nach Freiheit, Unabhängigkeit und Widerstand. So unterschiedlich die Menschen auf dieser Veranstaltung sind, sie alle hat an diesem Sonnabend ein Gefühl hergebracht: Das Gefühl, unterdrückt zu werden.

„Wir wollen zivilen Ungehorsam betreiben!“, ruft eine alte Dame und zeigt fröhlich auf sich und ihre Freundinnen. Sechs Stunden sind sie mittlerweile hier. „Es ist Wahnsinn, was unsere Jugend hier zustande gebracht hat. Ich bin ziemlich stolz. Und glücklich. Aber ...“, sagt sie und guckt sich um, „... ein bisschen Angst haben wir auch. Vor der Polizei. Nicht so viel wie damals. Nicht so sehr, dass wir uns das hier nicht trauen würden“, erzählt die Frau, die nicht mit Namen genannt werden will.

„Damals“, das ist die Zeit der Franco-Diktatur. Faschismus, Exekutionskommandos, Arbeitslager - und die Unterdrückung der katalanischen Kultur. „Damals“, das ist mehr als 40 Jahre her. Doch „damals“, ist seit einigen Jahren in den Köpfen wieder präsent.

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„Wir wollen zivilen Ungehorsam betreiben!“ Das Publikum auf der Kundgebung ist heterogen, das Ziel ist das gleiche.

Foto: Maria Jou Sol
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Straßenverkäufer, die sonst vor allen Dingen Bierdosen verkaufen, passen sich ihrem Publikum an.

Foto: Maria Jousol
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Das blaue Dreieck in der katalanischen Unabhängigkeitsflagge ist eine Hommage an Kuba - eine ehemalige spanische Kolonie.

Foto: Maria Jou Sol
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Die Stimmung ist friedlich, fast euphorisch.

Foto: Maria Jou Sol
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Die Forderungen nach der Freilassung der inhaftierten Politiker sieht man in fast jeder Straße.

Foto: Raphael Weiss

Der Ruf nach der Unabhängigkeit ist fester Bestandteil im Stadtbild von Barcelona. In fast jeder Straße sieht man an den kleinen Balkonen politische Botschaften. Katalanische Flaggen, die über die Jahre ihre Farbe verloren haben, hängen neben Plastikbannern, die die Freilassung der seit 2017 inhaftierten Politiker fordern. So lange ist es her, dass der Katalonienkonflikt seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Das Unabhängigkeitsreferendum vor zwei Jahren, das die Abspaltung des Bundeslandes Katalonien im Nordosten Spaniens zur Wahl stellte, verstieß gegen die Verfassung, denn sie verbietet die Abspaltung einer Region vom Zentralstaat. Und der wehrte sich mit aller Kraft. Die Bilder von prügelnden Polizisten gingen um die Welt.

Viele Spanier sehen die Verurteilten als Terroristen - viele Katalanen sehen sie als Märtyrer

Carles Puigdemont, Kataloniens damaliger Präsident, der nach dem Referendum die Republik Katalonien ausrief, ging ins Exil, um einer Verhaftung zu entkommen. Puigdemont reiste von Brüssel, nach Dänemark, wurde in Deutschland festgenommen und schließlich wieder freigelassen. Führende Regierungsmitglieder und Aktivist*innen, die nicht flohen, wurden verhaftet. In Barcelona gingen mehrfach Millionen Menschen auf die Straße, um die Freilassung der Gefangenen zu fordern. Im Oktober 2019 verkündete der Oberste Gerichtshof sein Urteil: Aufruhr, Veruntreuung von Geldern, bis zu 13 Jahre Haft.

Viele Spanier *innen sehen die Verurteilten als Terrorist*innen, als gierige Politiker*innen, die die Verfassung des Landes mit Füßen treten. Viele Katalan*innen sehen sie als Märtyrer*innen. Seit dem Urteil gibt es fast jeden Tag Demonstrationen. Besonders junge Katalan*innen greifen nun zu extremeren Methoden. Platzblockaden, Flughafenbesetzung, angezündete Mülltonnen und Autos. Bei der heftigsten Auseinandersetzung zwischen Demonstrierenden und Polizei wurden 90 Menschen auf beiden Seiten verletzt. Doch warum sehnen sich gerade junge Menschen nach der Unabhängigkeit? Und warum greifen Jugendliche gerade jetzt zu immer radikaleren Methoden?

„Ein Katalonien, das linke Politik betreibt, sozial, feministisch, antifaschistisch, solidarisch“

Seit fast zwei Wochen leben Jorge und Miguel auf der Plaça de la Universitat, wenige Meter von der großen Kundgebung entfernt. Seite an Seite in einem Meer aus bunten Zelten, das den Verkehr auf einer der größten Straßen Barcelonas blockiert. Das Camp ist gut organisiert. Es gibt eine Sanitätszelt, ein Sitzungszelt, die Kochstation, ein feministisches Zelt, sogar eine Pressezentrale. Überall hängen katalanische Flaggen und gelbe Schleifen, das Symbol für die Freilassung der inhaftierten Politiker. Ein Plakat hat den Kopf des spanischen Königs auf Francos Körper montiert. Jorge, 43, trägt Schottenrock und Vollbart. Miguel, 19, Funktionskleidung und Wanderschuhe. Im normalen Leben hätten sich ihre Wege wohl nie überschnitten, hier sind sie zu Freunden geworden.

„Miguel ist die gute Laune des Camps“, sagt Jorge, Miguel sagt, Jorge sei der beste Koch und er gebe seine Erfahrung an die anderen Aktivist*innen weiter. Vor kurzem hungerte er 59 Tage lang am Stück, um gegen die Inhaftierung der katalanischen Politiker zu demonstrieren. Ein Protest, der für ihn im Krankenhaus endete, wie er sagt. Der gebürtige Galizier engagiert sich seit Jahren für die Unabhängigkeit. Eine argentinische Zeitung habe ihn neulich mit Ghandi verglichen, erzählt Jorge nicht ohne Stolz. „Wobei Gandhi nur 21 Tage gehungert hat“, sagt er und nickt ernst. „Das Campieren ist auf jeden Fall deutlich komfortabler.“

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Miguel, 19, möchte aus Katalonien die Welt verändern.

Foto: Maria Jou Sol
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Jorge, 43, ging zuletzt 59 Tage in den Hungerstreik

Foto: Maria Jou Sol
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Das Camp ist aus dem Protest einer Studentengruppierung entstanden.

Foto: Maria Jou Sol
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Es gibt jeden Tag Sitzungen, Fortbildungen, die Bewohner diskutieren über Politik und das System.

Foto: Maria Jousol
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„Zittert, dieses Mal werden wir keine Hippies sein“ - das Graffiti vor dem Camp ist auch eine Drohung an die Polizei.

Foto: Raphael Weiss

Die Franco-Diktatur kennt Miguel nur aus Erzählungen. Er ist Teil der Generation, von der die Älteren bis vor kurzem gedacht hatten, sie sei nur mit sich selbst beschäftigt. „Ich bin in Katalonien geboren, aber ich bin Teil des Universums, ich bin Weltbürger“, sagt Miguel. Dass es grotesk klingt, dass er sich dennoch für die katalanische Unabhängigkeit einsetzt, ist ihm bewusst. „Aber ich will einen Neuanfang. Wir wollen aus einem neuen Katalonien beginnen, die Welt zu verändern“, während er das sagt, ballt er die Faust, seine Augen beginnen zu glänzen. „Ein Katalonien, das linke Politik betreibt, sozial, feministisch, antifaschistisch, solidarisch.“ Langfristig hofft er, dass aus der Unabhängigkeitsbewegung eine Welt ohne Grenzen hervorgeht. Er sieht das Camp in direkter Verbindung mit Hongkong, Chile, Bolivien, dem Libanon.

Die Wunden der Vergangenheit reißen jetzt wieder auf

Der Streit, ob Katalonien einen historischen Unabhängigkeitsanspruch hat, ist Jahrhunderte alt. Viele Independentistas, wie sich die Befürworter*innen der Unabhängigkeit nennen, sehen in Spanien eine Besatzungsmacht und in Katalonien eine Kolonie. Auch heute haben Anhänger*innen wie Gegner*innen der katalanischen Unabhängigkeit genügend historische Dokumente, um ihre Version der Geschichte als die einzig wahre anzusehen. Auch wegen dieser Bewegung versuchte Franco die katalanische Sprache und Kultur so gut es ging zu verbieten. 150 000 Menschen ließ das Regime zwischen 1936 und 1975 ermorden. Millionen von Menschen waren vor der Diktatur nach Frankreich geflohen, darunter viele Katalan*innen. 1975, als Franco starb, einigte man sich in Spanien darauf, dass die Verbrechen der faschistischen Diktatur nicht juristisch aufgearbeitet werden, um einen Übergang zur Demokratie zu ermöglichen. Die Gefahr eines zweiten Militärputsches war in den Jahren nach der Diktatur alltäglich. 1981 wurde das spanische Parlament von Anhängern des toten Diktators und der Guardia Civil besetzt, die Abgeordneten als Geisel genommen.

Durch das Schweigen über die Vergangenheit sollte der Weg in die Demokratie geebnet werden, doch die Folgen der fehlenden Aufarbeitung sind heute noch offensichtlich. Erst 2005 wurde eine sieben Meter hohe Statue Francos in Madrid entfernt. Die Fundación Francisco Franco, deren Ziel es ist, ein positives Image des faschistischen Diktators zu „bewahren“, wurde jahrelang mit staatlichen Geldern unterstützt. Während der Demonstrationen für die inhaftierten Politiker*innen, zogen Gegendemonstranten mit Flaggen aus der Franco-Zeit und faschistischen Grüßen durch die Straßen Barcelonas. Politiker*innen der rechtsextremen VOX-Partei loben immer wieder öffentlich den ehemligen Diktator. Wegen Beispielen wie diesen denken viele Katalanen*innen, dass das Gedankengut Francos noch immer großen Einfluss auf die Politik, Justiz und Wirtschaft in Spanien hat. Die hohen Strafen für die katalanischen Politiker*innen ist für sie ein weiteres Indiz.

„Wir hätten uns den Prozess sparen können. Das Urteil stand von vorneherein fest“

Andreu van den Eyde, 44, vertrat in dem spektakulärsten Prozess der jüngeren spanischen Geschichte Oriol Junqueras und Raül Romeva. Junqueras war 2017 der Vizepräsident Kataloniens, Romeva Außenminister. Seine Klienten wurden zu zwölf und 13 Jahren Haft verurteilt. Van den Eyde sitzt in auf der Terrasse einer Bar in Tres Torres, einem gehobenen Viertel Barcelonas. Ab und an lacht er schnaufend, wenn er von dem Prozess erzählt, so als könnte er noch immer nicht glauben, was er in den vergangenen Monaten erlebt hat. „Wir hätten uns den Prozess sparen können. Das Urteil stand von vorneherein fest. Wir, die wir uns schon lange mit diesem Thema auseinandersetzen, haben kein Vertrauen in den Staatsapparat“, sagt er. „Wir dachten, dass es bestimmte Regeln gäbe, die sie nicht überschreiten würden. Sie wiesen meine Beweise zurück, Dokumente kamen nicht rechtzeitig bei uns an, andere haben sie verloren.“ sagt van den Eyde. Wie er denken viele Katalan*innen über den Prozess.

18 Personen wurden in dem Gerichtsverfahren vom Obersten Gerichtshof in Madrid verurteilt. Die Strafen reichen von Geldstrafen und Berufsverboten, bis zur Haft wegen Aufruhr und Veruntreuung öffentlicher Gelder, da das Referendum teilweise von der Regionalregierung bezahlt wurde. Amnesty International kritisierte die Höhe der Haftstrafe und die Inhaftierung der Aktivist*innen. Schon vor dem Verfahren gab es einige Skandale, die das Vertrauen in die Justiz beschädigt hatten. Eine Woche vor dem Prozess kam an die Öffentlichkeit, dass ein Senator der Partido Popular, der größten Konservativen Partei, seinen Kollegen per WhatsApp versichert hatten, der Präsident des Obersten Gerichtshofes werde der Partei helfen, das Verfahren durch die Hintertür zu kontrollieren. 

Unabhängigkeitsparteien kommen auf fast 50 Prozent der Stimmen

Durch das Urteil verloren die wichtigsten Unabhängigkeitsparteien ihre Führungsfiguren. Gabriel Rufián, 37, ist das Gesicht der Esquerra Republicana de Catalunya, der größten katalanischen Partei, seitdem seine Parteikollegen im Gefängnis sitzen. Rufián bemühte sich in den vergangenen Monaten um den Dialog mit den großen spanischen Parteien, die fast alle ein offizielles Unabhängigkeitsreferendum kategorisch ablehnen. Viele Demonstranten sahen das als Stich in den Rücken, legen ihm seinen Wunsch nach politischem Dialog als Feigheit aus. Auf einer Demo schlug ihm deshalb vor wenigen Wochen regelrechter Hass entgegen. Der 37-Jährige wurde solange ausgepfiffen und beleidigt, bis er schließlich den Heimweg antrat. „Das war kein wirklich schlimmer Moment für mich. Pfiffe können mich nicht schocken. Ich heiße Rufián“, sagt der Mann, dessen Nachname übersetzt Zuhälter bedeutet. „Wir sind sehr stolz auf die vielen friedlichen Demonstrationen. Uns repräsentieren keine Molotowcocktails, keine Gewalt. Wir müssen weiter linke Politik machen und der Jugend Lösungen aufzeigen.“

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Gabriel Rufián ist das neue Gesicht der größten katalanischen Partei.

Foto: Raphael Weiss
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Bei der Wahl am 10. November kam die ERC auf 22,5 Prozent der Stimmen in Katalonien. Den Wahlkampf dominierten die Wörter "Freiheit" und Unabhängigkeit".

Foto: Raphael Weiss
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Fast jeden Tag finden in Barcelona Demonstrationen statt.

Foto: Raphael Weiss
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Straßenblockaden gehören fast zur Tagesordnung.

Foto: Raphael Weiss

2008 wählten 28 Prozent der Katalan*innenn Unabhängigkeitsparteien. Dann begann die spanische Zentralregierung mit einer restriktiveren Politik gegenüber Katalonien. Ein Gesetz, das der Region mehr Autonomie zusicherte, wurde wieder zurückgenommen, es gab Versuche, mehr Einfluss auf die Bildungspolitik Kataloniens zu nehmen, der Tonfall wurde schärfer. Seitdem gewinnen die Unabhängigkeitsparteien an Zustimmung. Mittlerweile liegen sie in Katalonien bei knapp der Hälfte der Stimmen. Ein starker Anstieg, doch kaum einer der jungen Erwachsenen auf den Demonstrationen sieht seine Sicht auf die Welt, auf Spanien, auf Katalonien, durch eine Partei vertreten. Sie fühlen sich von der spanischen Politik verraten und unterdrückt, sehen die katalanischen Parteien als zu klein und unbedeutend an, um tatsächlich etwas auszurichten. Nicht wenige Independentistas sehen deshalb in der Verurteilung der Politiker*innen einen Beweis dafür, dass die Politik nichts erreichen könne. Dass der bisherige Weg, friedliche Demonstrationen und die Hoffnung auf ein legales Referendum, nicht zum Ziel führt.

Tsunami Democrátic: Terrororganisation oder Stimme des Volkes?

In den letzten Monaten hat eine Bewegung, die sich Tsunami Democrátic nennt, großen Einfluss auf die Unabhängigkeitsbewegung und die Demonstrationen bekommen. Sie agieren anonym und aus dem Untergrund. Mit Hilfe einer App und Telegram-Gruppen mit über 400 000 Mitgliedern organisieren sie Demos und Aktionen, wie die Besetzung des Flughafen El Prat, durch die rund 100 Flüge ausfielen. Vor allen Dingen die von der Politik frustrierten jungen Erwachsenen finden hier eine neue politische Heimat. Weil auf den Demonstrationen Steine, Flaschen und angeblich auch Molotowcocktails auf Einsatzkräfte geworfen wurden und ein Demonstrant einen Polizeihubschrauber mit Silvesterraketen beschossen hatte, stufte die spanische Polizei Tsunami Democrátic als terroristische Vereinigung ein. In einem anonymen, sicheren Chat, tippt ein Sprecher von Tsunami Democrátic, der sich Pablo nennt:  „Wenn man solche Anschuldigungen von sich gibt, wie die Behörden, muss man sie auch beweisen. Dass der Staat Protest mit Terrorismus gleichsetzt, ist gefährlich für jede Person, die in Spanien Menschenrechte nutzen möchte.“

Wer genau hinter Tsunami Democrátic steht, ist bisher nicht bekannt. Expert*innen schätzen, dass hohe Politiker*innen und Aktivist*innen Mitte Juli die Bewegung in Genf gegründet haben. So undurchschaubar der Hintergrund und die Ziele der Bewegung sind, so häufig die Demonstrationen von ihr auch im Zusammenhang mit Gewalt stehen, sie genießt eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Auch wichtige katalanische Figuren wie Pep Guardiola unterstützen die Bewegung. 

Erst fliegen Beleidigungen, dann faule Eier

Die meisten Demonstrationen, zu denen die Tsunami Democrátic aufruft, sind tatsächlich friedlich. So wie die Kundgebung und die Konzerte an der Gran Vía. Die Sonne ist verschwunden, die Luft in Barcelona wird kalt, doch die Stimmung auf der Kundgebung ist noch immer ausgelassen. Menschen tanzen, singen, auf der Bühne wird Bella Ciao angestimmt. Kurz vor 19 Uhr wird das Bild mehrerer Polizeiwagen in die Telegram Gruppe von Tsunami Democrátic und Anonymus Catalunya geschickt, zusammen mit der Nachricht: „Alle zum Plaça Catalunya. Wir brauchen eure Unterstützung.“ Junge Erwachsene machen sich auf dem Weg, ziehen auf den wenigen Metern zwischen Konzert und Hauptplatz die Schals übers Gesicht.

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Erst fliegen Beleidigungen, dann faule Eier.

Foto: Maria Jou Sol
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Die Polizei riegelt die Straßen zum Placa Catalunya ab.

Foto: Raphael Weiss
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Zehn Minuten lang verläuft die Demonstration weitestgehend friedlich...

Foto: Maria Jousol
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...dann eskaliert die Situation. Die Demonstranten benutzen Mülltonnen als Barrikaden.

Foto: Raphael Weiss
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Diese Bilder werden am nächsten Tag die Nachrichten dominieren.

Foto: Maria Jou Sol

Auf der Straße warten Einsatzwagen der Polizei und Beamte mit dicker Panzerung, Schildern und Helmen. Gesichter sind darunter nicht zu erkennen. Die Stimmung ist aufgeheizt, angespannt. Um 20 Uhr setzt sich der rund 300 Leute starke Demonstrationszug in Bewegung, der die Bilder des Abends für die Medien liefern wird. Bilder, die die andere Seite des Protests zeigen, Bilder, die so spektakulär sind, dass sie das friedliche Image verdrängen. Es dauert nicht lange, bis die Situation eskaliert. Als der Zug in eine Seitengasse abbiegen will, errichtet die Polizei eine Straßensperre. Erst fliegen Beleidigungen, dann faule Eier. Die Schalen zerschellen auf der Straße und an den Helmen der Beamten. Ein junger Mann baut sich vor einem Polizisten auf, schreit ihn immer wieder an: „Beschissener Faschist! Verpiss dich von hier!“ So geht das drei Blocks lang. Straßensperre, Eier, Beleidigungen. Mülltonnen werden wie Schutzwälle vor dem Zug hergeschoben, Parolen geschrien, gegen die „Besatzungsmächte“, für ein antifaschistisches Katalonien, für die Freiheit der inhaftierten Politiker.

Überall, wo der Zug vorbeikommt, leeren sich die Straßen, Kellner räumen hektisch die Stühle in die Bars. Irgendwann steht der Zug wieder Polizei gegenüber. Dazwischen nur die Mülltonnen. Plötzlich fliegen Glasflaschen und die Polizisten sprinten mit erhobenen Schlagstöcken in Richtung der Demonstranten. Menschen fliehen. Die Einsatzwägen rammen gegeneinander, als sie in Richtung der Vermummten fahren, kurz herrscht Chaos. Dann beginnt das Schauspiel von vorne. Block um Block. Die Demonstration verläuft sich nach gut einer Stunde. Das Konzert auf der Gran Vía ist noch im vollen Gange. Die Band auf der Bühne spielt Ska-P. Am Ende ruft sie den Namen jedes einzelnen inhaftierten Politikers.

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